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Donnerstag, 26. April 2012

Schlittenfahrt irgendwo im Nirgendwo

Aus Kasachstan über Moskau in den Ural
von Constanze Jantsch
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Bericht
Kostanai/gc. Trotz oder gerade wegen meines derzeitigen Kasachstanaufenthaltes konnte ich mich der winterlichen Faszination Russlands nicht entziehen und begleitete im Februar 2012 für einen deutschen Reiseveranstalter eine zweiwöchige Pferdeschlittentour in den Ural, genauer gesagt in der Republik Baschkirien.

Es ist 11.15 Uhr Uhr als die Maschine vom Rollfeld in Kostanai abhebt. Es nicht so kalt, vielleicht minus 20 Grad, aber sonnig. 70 Minuten später landen wir nach rund 700 Flugkilometern in der kasachischen Hauptstadt Astana. Die Zwangspause nervt. Der halben Tag verstreicht, bevor es endlich nach Moskau weitergeht. Zeit genug, um sich auf dem Airport umzuschauen. Da ist wieder der junge Grenzbeamte, der mich vor wenigen Monaten bei meiner Ankunft in Kasachstan mit einem Hitlergruß hier in der Hauptstadt willkommen hieß. Heute bleibe ich ungegrüßt. Bevor es am Abend weitergeht, lege ich noch eine ornithologische Stunde ein und beobachte die Vögel im Flughafencafé. Nach etlichen Tassen Tee besteige ich den vollen Flieger und lande nach knapp drei Stunden in Moskaus Norden. Es ist jetzt 22.20 Uhr und das Geräusch des Pass-Stempels  löst Wohlwollen aus. Endlich zu Hause.


In Moskau angekommen, versammelt sich zwei Tage später eine bunte Truppe von fünf Deutschen, die sich zunächst einen Eindruck von mir, der Gruppe und der Stadt verschaffen wollen. Mich quält die Frage, welche Moskauer Sehenswürdigkeiten ich in nicht einmal 24 Stunden präsentieren könnte? Moskau an einem Tag erkunden zu wollen, ist einfach aussichtslos. Neben einigen wunderschönen Metrostationen zog es uns entlang der Twerskaja-Straße zum Roten Platz. Dort ist der Besuch des GUM obligatorisch. Auch die Christi-Erlöser-Kathedrale, die den Besucher mit ihrem Reichtum fast erschlägt, durfte im Programm nicht fehlen. Am frühen Abend kehren wir zurück zum Kasaner Bahnhof und besteigen den Zug. Ein ganzer Tag und zwei Nächte auf den Gleisen liegen vor uns.

Für Menschen, die es gewohnt sind, 600 Kilometer von Berlin nach München im Zug innerhalb von knapp sieben Stunden zurückzulegen, sind diese beiden Tage fast eine Ewigkeit. Mittlerweile kann ich diese Ewigkeit genießen. Die Devise lautet: Einsteigen und Zeit haben. Zeit, um eine völlig andere Bahnfahrerwelt zu entdecken. In diesem Fall war unsere Welt sogar sehr komfortabel ausgestattet, mit dem Luxus einer Chemietoilette, die sich sogar im Halt auf den Bahnhöfen benutzen lässt. Auch unsere noch junge Provódniza (Schaffnerin für unseren Wagon) sorgte sich rührend um uns.
Auf dem Bahnsteig von Schokoladenverkäufern umgeben konnten wir uns trotz kräftiger Minusgrade in Samara bei einem halbstündigen Aufenthalt dem russischen Sahneeis nicht verweigern. Die russischen Babushki ließen leider auf sich warten, und so bestiegen wir den Zug ohne ihre hausgemachten Köstlichkeiten.

Nach zwei Nächten und einem ganzen Tag im Zug treffen wir früh am Morgen in Beloretsk ein, wo wir von einem Fahrer unserer Turbasa (Herberge) abgeholt werden.  Die Müdigkeit steckt uns in den Knochen. Trotzdem erkunden wir bereits am ersten Tag das russische Dorf und machen uns während eines kleinen Schlittenausflugs mit den Pferden vertraut.

Wir sind in einem ehemaligen Krankenhaus untergebracht, dessen einstiger medizinischer Zweck nicht mehr zu erahnen ist. Die hohen Decken faszinieren und schaffen eine besondere Atmosphäre. Bei Außentemperaturen von minus 20 Grad muss das Gebäude ständig geheizt werden, und so kommt es, dass wir nachts vor allem in der 2. Etage unseres Zimmers vor Hitze nicht schlafen können. Der Schweiß rinnt in wahren Sturzbächen ins Laken.
Die nächsten drei Tage geht es mit den Pferdeschlitten durch das Uralgebirge. Der wenige Schnee in diesem Jahr beraubt der Landschaft ein wenig ihrer Märchenhaftigkeit. Im Schlitten ist es bequem - einer lenkt, zu zweit machen wir es uns hinten gemütlich. Ab und an, wenn das Gelände ein wenig uneben wird und das eigene Körpergewicht nicht mehr ausreicht, um die Schwankungen auszugleichen, kippen die Schlitten um. Dann liegt die gesamte Besatzung im Schnee. Ein schönes Schauspiel, bei dem jeder nur darauf wartet, dass es auch den anderen Schlitten erwischt. Besonders die Ü-70-Fraktion hat ihren Spaß, passiert dies doch nur einmal, wenn das „Altersheim sich auf Kutschfahrt begibt“. Übernachtet wird in Rangerhütten irgendwo im Nirgendwo. Unser russischer Guide Victor bekocht uns jeden Abend hervorragend. Bei Bier und Spielen vergeht die Zeit.

Bei der Rückkehr ist „unser Krankenhaus“ von Urlaubern überschwemmt. Der Grund dafür heißt Masleniza. Es ist der letzte Tag der Butterwoche, die die orthodoxe Fastenzeit mit einem großen letzten Schlemmen einläutet. Tags darauf gehen wir ins Dorf. Dort werden die Pferde für das Fest geschmückt. Anschließend dürfen wir selbst auf der Troika Platz nehmen und drehen eine kleine Runde auf der Hauptstraße.

Der ganze Ort ist auf den Beinen, es herrscht buntes Treiben. Die Kinder reißen sich um die Fahrt auf dem Schlitten. Auch aus der Stadt kommen die Menschen, um die familiäre dörfliche Atmosphäre zu genießen. Es duftet nach Schaschlik, den die Einheimischen aus hausgeschlachtetem Fleisch selbst zubereiten. Wir probieren uns auf Stelzen, kehren in eine Eckkneipe auf ein Bier ein, kommen mit Einheimischen ins Gespräch und genießen die Sonnenstrahlen, die den nahenden Frühling erahnen lassen. Am frühen Nachmittag kehren wir zurück in die Turbasa, wo ein uns ein fettiger Duft um die Nase weht - frische Bliny mit hausgemachter Warenje, einer Art Marmelade, die nur viel flüssiger ist und in der Regel zum Tee gereicht wird.

So vergehen die Tage bei Spaziergängen, Tischtennisduellen, dem Rutschen auf Autoreifen durch den Schnee sowie wärmenden und reinigenden Banja-Bädern. Ein Besuch des Naturreservats Schulgan-Tasch, eine Runde durch ein echtes baschkirisches Dorf und ein letzter Ausritt runden unsere Entdeckertouren ab. Ein letztes Mal gehen wir den Dorfladen, der uns treue Dienste geleistet hat und die Gemüter mit Walenki (Filzschuhen), fantastischen Günstig-Handschuhen, Hausschuhen, T-Shirts, Postkarten und Ungesundem zutiefst befriedigt hat.

Am Abend unserer Abreise steht ein Besuch mit Abendessen bei einer Dorffamilie an. Das Essen, die Pelmeni, ist leider schon zubereitet und so verpassen wir die ganze Prozedur ihrer Herstellung. Stattdessen werden wir von den teilweise schon gut „betankten“ Familienmitgliedern unterhalten. Am angenehmsten ist mir die Babushka (Oma), die zurückgezogen aus der sicheren Obhut ihres Sessels das Schauspiel beäugt. Sie redet leise. Als sie mich beruhigt, dass ich noch einen Mann finden werde, habe ich sie schon längst in mein Herz geschlossen.


Wir essen Selbsteingelegtes, es gibt fruchtiges Kompott und selbstgebrannten Samagon, mit dem ich nur zur Dekoration anstoße. Es bereitet mir Mühe, das Gewirr von Fragen zu übersetzen und gleichzeitig den alkoholisierten Hausherren freundlich auf Distanz zu halten. Der Umgangston zwischen den Familienmitgliedern ist rau. Unsere junge russische Begleiterin von der Turbasa versichert mir anschließend, dass wir uns bei einer Familie aufgehalten haben, die auf jeden Fall der Mittelschicht angehört. Am Ende des Abends bin ich froh, dass wir nicht selbst kochen mussten und freue mich auf die Zugfahrt. Zwei Tage Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen.

Die Uhr im Bahnhofsgebäude verrät schon das Ziel: Sie zeigt Moskauer Zeit. Ab jetzt spielt die Musik wieder zwei Stunden früher. Aber uns kann das ja egal sein, schließlich werden wir uns wieder in einer anderen Welt bewegen …

Bildunterschrift 1:
Frauengespräche ... Foto: Constanze Jantsch

Bildunterschrift 2:
Vergangenes aus Kindertagen: Reisebegleitung auf Stelzen, erste Gehversuche im Ural. Foto: Constanze Jantsch

Bildunterschrift 3:
Grenzenlose russische Gastfreundschaft. Foto: Constanze Jantsch

Bildunterschrift 4:
Das Glück dieser Erde liegt im Ural zu Pferde ... Foto: Constanze Jantsch

Bildunterschrift 5:
Unerwartete Bekanntschaft zur Masleniza. Foto: Constanze Jantsch

Bildunterschrift 6:
Auch Pferde haben Hunger: Ruhepause für’s liebe Vieh. Foto: Constanze Jantsch

Kontakt:
constanze_jantsch(at)web.de
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