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Donnerstag, 12. Juli 2012

Zwangsarbeit ohne Rentenanspruch

In den Medien vernachlässigte Themen 2012
Redaktion: „Der blinde Fleck“ - Initiative Nachrichtenaufklärung
Nachnutzungen jeglicher Art nur mit ausdrücklichem Einverständnis des Autors oder Seitenbetreibers.
Bericht
Siegen/gc. Nach Ansicht der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) – www.derblindefleck.de –wurden auch in diesem Jahr wieder wichtige Themen von den deutschen Medien nicht oder zu selten aufgegriffen. So hat die INA-Jury in Siegen getagt und die Rangliste der wichtigsten von den Medien vernachlässigten Themen und Nachrichten aus 2012 gewählt. In die Top 10 haben es geschafft:

1. Keine Rente für arbeitende Gefangene
Strafgefangene in Deutschland sind verpflichtet zu arbeiten, sie erwerben dafür aber keine Rentenansprüche. Dies liegt daran, dass die Rentenversicherung nur bei freiwilliger Arbeit greift. Ein Gesetz zur Einbeziehung der Häftlinge wurde 1976 außer Kraft gesetzt. Seitdem ist jedoch nichts geschehen, obwohl die Bundesregierung im Jahr 2008 Handlungsbedarf eingeräumt hat. Ehemalige Gefangene stehen deshalb im Alter vor finanziellen Problemen, da ihre im Gefängnis geleistete Arbeit nicht angerechnet wird. Diese Entlassung in die Altersarmut widerspricht dem Gebot der Resozialisierung. Über das Problem wurde in den Medien bisher kaum berichtet. Rechte von verurteilten Straftätern sind in der Öffentlichkeit vermutlich wenig populär. Menschenrechtler weisen jedoch darauf hin, dass eine gelungene Resozialisierung auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt.

2. HIV-positiv auf dem Arbeitsmarkt:
Kein Rechtsschutz gegen Diskriminierung
HIV-positive Menschen klagen darüber, dass sie in der Arbeitswelt auch in Bereichen benachteiligt werden, in denen ihre Infektion keinerlei Risiko darstellt. Momentan sind sie dagegen auch nicht durch den gesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatz geschützt. Unter das Schutzziel „Behinderung“, das im deutschen Antidiskriminierungsgesetz und der einschlägigen EU-Richtlinie genannt sind, fallen HIV-Positive (aus gutem Grunde) nicht. Die Politik sieht offensichtlich keinen Anlass, eine allgemeingültige Rechtsgrundlage zu schaffen, sondern überlässt die Frage der Rechtsprechung. Auch 30 Jahre nach dem Bekanntwerden von AIDS sind Betroffene deshalb im Bereich des Arbeitsrechts den existierenden Vorurteilen schutzlos ausgeliefert.

3. Die Antibabypille – gefährliches Lifestyle-Medikament
Die Antibabypille ist für viele Frauen in Deutschland zu einem „Lifestyle-Medikament“ geworden – und das, obwohl die Informationslage für Nutzerinnen schwer durchschaubar ist. Pharmakonzerne werben im Netz und bei Frauenärzten für Pillen der „dritten und vierten Generation“. Diese Hormonpräparate mit neuartigen Gestagenen (weiblichen Geschlechtshormonen) werden vermehrt verschrieben – trotz höherer Thromboserisiken und einem ungünstigen Risiko-Nutzen-Verhältnis. Auf Internetseiten, welche die Pharmaindustrie als Informationsportale betreibt, werden die „Beauty- und Wellness-Effekte“ der Pille beworben: schönere Haut und aufschiebbare Menstruation. Der hormonelle Eingriff in den weiblichen Zyklus und seine Risiken treten in den Hintergrund. 70 Prozent der 19-jährigen weiblichen Versicherten in Deutschland bekamen 2010 die Antibabypille verordnet. Die problematischen Werbestrategien und ihre Folgen werden in den Medien vernachlässigt.

4. Weiterbildung zum Hungerlohn
Alle reden von der „Wissensgesellschaft“. Aber wer als Dozent Weiterbildungskurse im Auftrag des Arbeitsamtes gibt, verdient oft so wenig Geld, dass er selbst auf zusätzliche Unterstützung angewiesen ist. Betroffene und Gewerkschaften berichten von geringer Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen. Dabei haben die Arbeitsbedingungen der Ausbilder große Auswirkungen auf die Qualität der Weiterbildung vieler Arbeitsloser. Am 4. Juli hat zwar die deutsche Bundesregierung einen Mindestlohn im Bildungssektor von 12,60 Euro (Osten: 11,25 Euro) beschlossen. Da aber jede Unterrichtsstunde mindestens eine Vorbereitungsstunde bedingt, liegt dieser Lohn mit 6,30 Euro noch unter dem Mindestlohn im Reinigungsgewerbe.

5. Hartz IV bei Krankheit – kein Thema
Menschen, die durch eine Behinderung oder chronische Krankheit arbeitsunfähig geworden und auf Hartz IV angewiesen sind, haben oft Schwierigkeiten, ihre gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Sie können zusätzlich zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung einen geringen Betrag für Mehrbedarf bekommen, dieser reicht jedoch oft nicht aus. Wenn sie z.B. nicht-verschreibungspflichtige Medikamente (OTC-Arzneimittel) benötigen, müssen sie diese häufig selbst bezahlen. Auch für die Bewältigung ihres Alltags entstehen zusätzliche Kosten aufgrund ihrer Erkrankung. Das Schlagwort Hartz IV wird in der Medienberichterstattung größtenteils nur auf die arbeitsfähige Bevölkerung bezogen. Schwerpunkt ist deshalb auch meist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die jedoch für dauerhaft berufsunfähige Menschen keine Rolle spielt. Die Lebensumstände der vielen berufsunfähigen Hartz-IV-Empfänger sind dagegen nur selten ein Thema. Eine Aufklärung über das Thema könnte dazu beitragen, dass die Betroffenen und ihre Familien ihre Rechte besser kennen und wahrnehmen.

6. Vergessene Zivilprozesse
In Deutschland finden jährlich etwa doppelt so viele Zivilprozesse wie Strafprozesse statt – dennoch wird in den Medien überwiegend über die skandalträchtigeren Strafprozesse berichtet. Dabei kommen häufig die Verfahren an den Zivilgerichten zu kurz. Dort werden Fälle verhandelt, deren Inhalte und Urteile für viele Bürger relevant sind – so zum Beispiel eine langjährige Auseinandersetzung um eine Erwerbsminderungsrente mit umstrittenem Ergebnis.

7. Gekaufte Kundenbewertungen im Internet
Viele Menschen kaufen heute Waren in Online-Shops – doch die Kundenbewertungen, auf die sie sich dabei häufig verlassen, werden systematisch und auf illegale Weise gefälscht und manipuliert. In den vergangenen Jahren ist eine Schattenbranche von Dienstleistern entstanden, die sich im Auftrag von Herstellern als Kunden ausgeben und bezahlte Wertungen im Netz abgeben: Dabei werden eigene Produkte gelobt, die Konkurrenz schlechtgemacht, obwohl eine solche Praxis gegen geltendes Recht verstößt. Recherchen haben ergeben, dass dieses Falschvoten nur selten erkannt und von den Betreibern der Verkaufsportale entfernt werden. Branchenkenner schätzen, dass rund ein Drittel der Online-Kundenbewertungen gefälscht sind. Doch vielen Konsumenten ist das nicht bewusst.

8. Miserable Zustände in europäischen Haftanstalten
Trotz allgemein geltender Menschenrechte, wie die der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, sind die Haftanstalten in vielen Ländern Europas geprägt von menschenunwürdigen Bedingungen: Zellen sind völlig überbelegt, es mangelt an Hygiene und sanitären Einrichtungen, und Gefangene sind Gewalt seitens des Gefängnispersonals ausgesetzt. Das Problem der Überbelegungen haben fast alle Staaten Europas, denn in den letzten Jahren hat sich die Tendenz entwickelt, Menschen sofort – auch bei geringen Straftaten oder bloßem Verdacht – zu inhaftieren. Das stellen Experten des „Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ des Europarates (kurz: CPT) fest. Oft werden Verdächtige viel zu lange in Untersuchungshaft festgehalten, weil sich viele Gerichtsverfahren über Monate hinziehen. Obwohl es hier in erster Linie um die Bedingungen in Haftanstalten anderer europäischer Staaten geht, ist das Thema auch für Deutschland relevant. Denn viele der Länder, in deren Haftanstalten menschenunwürdige Bedingungen herrschen, sind Mitglied der Europäischen Union oder haben ein Abkommen mit der EU und pflegen einen engen politischen Kontakt zu Deutschland. Über die miserablen Bedingungen in europäischen Haftanstalten haben deutsche Medien in den vergangenen Jahren nur wenig berichtet.

9. Die undurchsichtige Industrie humanitärer Hilfe
Eine Industrie ohne Rechenschaftsbericht: Jeder kann eine humanitäre Hilfsorganisation gründen. Doch ob sie sinnvoll arbeitet und ihre Gelder an der richtigen Stelle einsetzt, ist von außen schwer nachvollziehbar. Die Medien berichten zwar ausführlich über humanitäre Hilfseinsätze bei Krisen und Naturkatastrophen. Transparenz darüber, wie sich die Hilfsgelder etwa über das Jahr verteilen, schaffen sie aber nur selten. Gleiches gilt für Diskussionen über Reformen der Finanzstruktur humanitärer Hilfe.

10. Betrugsanfälligkeit von Drogentests
Mehr als 25.000 Autofahrern wurde 2011 nach Angaben des Kraftfahrtbundesamt der Führerschein wegen „charakterlicher Mängel aufgrund Neigung zu Trunk-, Arzneimittel oder Rauschgiftsucht“ entzogen. Wer seine Fahrerlaubnis wiederhaben will, muss oft Urinproben für einen Drogentest einreichen. Doch diese sind anfällig für Betrug: Offenbar ist es möglich, unerkannt Kunsturin einzureichen (der bei Internethändlern wie Amazon frei verkauft wird ebenso wie Boxershorts oder gar Kunstpenisse mit einem kleinen Beutel „Clean Urin“). Die Behörden gestehen ein, dass es Manipulationsversuche gibt. Aber offensichtlich wird das Problem unterschätzt, weil zum Beispiel bei Drogentests nicht einmal stichprobenartig überprüft wird, ob es sich um Kunsturin handelt.

In der Rubrik Top-Themen sind in Kürze auch für die Themen aus 2012 die genauen Begründungen zum Sachverhalt, zur Relevanz und zur Vernachlässigung zu finden.

Über die Initiative Nachrichtenaufklärung
Die INA wurde im Mai 1997 gegründet und ist ein Gemeinschaftsprojekt folgender Hochschulen: TU Dortmund, Universität Siegen und MHMK Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation. Vorbild der Initiative ist das US-amerikanische „Project Censored“.

Ziel der INA ist es, wichtige Nachrichten und Themen, die in den Medien nicht genügend berücksichtigt wurden, stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen.

Medienschaffende, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen, aber auch alle Bürger können bei der INA ihrer Meinung nach vernachlässigte Themen einreichen. Die Themenvorschläge werden von Studierenden in Recherche-Seminaren der beteiligten Hochschulen auf Richtigkeit und Vernachlässigung geprüft. Alle Themen, die dieser Prüfung standgehalten haben (meist rund 20), werden der Jury der INA vorgelegt. Diese entscheidet dann über die gesellschaftliche Bedeutung der Themen, indem sie jeweils im Juli die Rangliste der vernachlässigten Top-Themen des vergangenen Jahres kürt.

Die INA-Jury

Die Jury der INA setzt sich aus Journalisten und Wissenschaftlern zusammen, u.a. Prof. Dr. Rainer Geißler, Christina Kiesewetter, Prof. Dr. Dr. Peter Ludes, Leif Kramp, Prof. Dr. Horst Pöttker und Rita Vock (DLF).

Nachfragen:
Ansprechpartner für Nachfragen zu den einzelnen
Themen oder zur INA im Allgemeinen:
Miriam Bunjes
mib@miriam-bunjes.de
Johanna Fritz
johanna.fritz@tu-dortmund.de
Toralf Staud
post@toralfstaud.de
Leif Kramp
kramp@uni-bremen.de

Kontakt:
Prof. Dr. Horst Pöttker
Geschäftsführer der INA
Journalistik-Wissenschaftler

TU Dortmund
Institut für Journalistik
44221 Dortmund
Tel.: 0231-755 28 27
Fax: 0231-755 55 83
info@nachrichtenaufklaerung.de
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