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Montag, 16. September 2013

Wenn der Tod die Seele frisst

Notfallseelsorger suchen Partner
von Heiko Wruck
BERICHT
Pampow/gc. So stellt man sich den zerstörerischen Einschlag eines Meteoriten vor. Keine Ankündigung, kein Laut, kein Vorbote der Katastrophe. Die Tasse mit dem Morgenkaffee in der Hand ahnt man nicht, dass das Frühstücksei nicht mehr angefasst wird. Dann durchschlägt der Himmelskörper das Terrassendach und bricht sich in einem alles vernichtenden Feuer­sturm durch jeden Halt.

Es ist Sonntagfrüh. Martin S. steht auf der Veranda und raucht. Seine Frau bereitet den Tisch vor. Tochter Sabine und ihr Verlobter Fred waren gestern Abend noch mit Freunden unterwegs. Sie schlafen wohl noch. Der Nachbar grüßt. „Hast du gehört, gestern haben sich wieder zwei totgefahren.“ Martin S. nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette und schüttelt den Kopf. „Weißt du, wer die beiden sind?“ Es klingelt und er hört, wie seine Frau schreiend zusammenbricht.

Zu den Menschen, die freiwillig und ehrenamtlich solche Nachrichten überbringen, gehört seit fünf Jahren auch Melitta Sahl. Die Pampowerin engagiert sich bei der Notfallseelsorge/Notfallhilfe der Johanniter. 18 Todesnachrichten haben die 44-Jährige und ihre neun Mitstreiter im Regionalverband MV West in diesem Jahr überbracht. „Wir werden in der Regel von der Polizei gebeten,  mitzukommen, um Hilfe und Trost zu geben, wenn der plötzliche Tod eines geliebten Menschen über die Hinterbliebenen hereinbricht.“ 

Zirka eineinhalb Stunden, manchmal auch länger, bleiben die Notfallseelsorger bei den Traumatisierten. Sie helfen Beteiligten am Unfallort, von Gewalttaten Betroffenen sowie Angehörigen und Kindern.

Die Reaktionen auf solche Nachrichten sind sehr verschieden. Manche sind in sich gekehrt, sprachlos, kraftlos, desorientiert, überfordert. Andere weinen hemmungslos, brechen zusammen oder schreien ihren Schmerz laut hinaus. Und es gibt die, die zu reden beginnen. Erst bruchstückweise, dann immer schneller. Schließlich sprudeln die Gedanken nur so aus ihnen heraus.

Die Notfallseelsorger halten Hände, nehmen in den Arm, spenden Trost, reden, versuchen Orientierung zu geben. Besonders bei Kindern ist es schwer, Trost zu geben. Sie haben einen Elternteil oder gar beide Eltern verloren, dazu vielleicht die Schwester, den Bruder, den Familienhund. Es braucht innere Stärke, um ein echter Helfer zu sein.

Die Notfallseelsorger sind die Ersten, die sich eingehend und tiefgründig um die Hinterbliebenen kümmern. Ihre Leitstelle, die von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei koordiniert wird, ist Tag und Nacht besetzt. In einem Eignungsgespräch  soll festgestellt werden, inwieweit neue Interessenten psychisch stabil und dauerhaft belastbar sind. Denn mit nach Hause sollen sie die Nachrichten, Eindrücke und Bilder nicht nehmen. In diesem Gespräch wird den Interessenten vermittelt, wie die Szenarien und Umstände ihrer Tätigkeit aussehen können. Trotz der tiefen psychischen Wirkung ihrer Tätigkeit müssen Notfallseelsorger über die Fähigkeit verfügen, loslassen zu können – nicht nur die Eindrücke vor Ort, sondern auch die Hinterbliebenen. 

Einmal im Jahr gibt es einen zertifizierten Lehrgang, der 92 theoretische und praktische Unterrichtseinheiten umfasst. Ein Bereitschaftsdienst stellt wochenweise die Notfallbereitschaft sicher. In der Bereitsschaft können die Notfallseelsorger zwar auch zu Familienfeiern oder Veranstaltungen gehen, müssen aber auf dem Sprung sein, wenn das Handy klingelt. Wer trotz Bereitschaft nicht zum Einsatz kann oder wegen einer schlechten Tagesverfassung den Anforderungen nicht gewachsen ist, kann die Aufgabe delegieren. Der Dienst ist freiwillig. 

„Wir suchen immer neue ehrenamtliche Mitstreiter“, sagt die Teamleiterin, die im Hauptberuf als Pflegefachkraft für außerklinische Beatmung arbeitet. „Übers Jahr gesehen liegt der Zeitaufwand bei etwa zwei Stunden pro Monat. Unser Regionalverband ist in Schwerin, Wismar, Parchim und Ludwigslust tätig, aber die Notfallseelsorge ist natürlich landesweit aufgestellt“, sagt Melitta Sahl.

Die freiwilligen Helfer kommen aus vielen Berufsgruppen: Tischler, Pastoren oder Landwirte finden sich darunter. Einen typischen Charakter oder Beruf gibt es nicht. Es kommt auf die persönliche Eignung an. In jedem Fall jedoch sind es immer plötzliche Todesfälle: beim Baden Ertrunkene, Selbstmörder, Unfallopfer ... 2011 und 2012 waren Melitta Sahl und ihre landesweit arbeitenden Kollegen jeweils 206mal im Einsatz.

Mindestens 21 Jahre alt sollten Menschen sein, die sich für die ehrenamtliche Tätigkeit in der Notfallseelsorge interessieren.  Kontakt: Tel. 03866-46 22 0, Lindenallee 2 in Leezen.

Kosten – Nutzen
Etwa 100 Notfallseelsorger sind bei den Johannitern landesweit tätig. 2012 waren sie 206mal im Einsatz. Bei durchschnittlich 1,25 Stunden pro Einsatz entstehen insgesamt 257 Arbeitsstunden in diesem Ehrenamt. Würden diese Leistungen mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde entgolten, wären dies 2.188,75 Euro pro Jahr. Nicht viel für eine Arbeit, deren wahrer Wert in Euro nicht auszudrücken ist.

Bildunterschrift:
Notfallbegleiterin Melitta Sahl und ihre Mitstreiter helfen Hinterbliebenen plötzlich Verstorbener und Opfern von Gewalttaten, den ersten Schock zu verkraften. Foto: Heiko Wruck

Kontakt:
heiko@wruck.org
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