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Montag, 16. November 2015

Nichts anderes zählt

Selbstoptimierung ist eine Geisteshaltung
von Heiko Wruck
BERICHT
Schwerin/gc. Es gibt Leute, die kommen mit einem gebrochenen Bein zur Arbeit. Sind sie nicht von ökonomischen Zwängen dazu veranlasst, treibt sie vielleicht eine narzisstisch übersteigerte Selbsterwartung dazu. Andere singen bereits gut gelaunt im Auto, auf dem Weg zur Arbeit, weil sie sich schon zum Frühstück zwei Glückspillen eingeworfen haben. Und es gibt die, die jeden Erfolg für steigerbar halten. Sie laufen noch schneller, noch länger, noch öfter. Sie nehmen Substanzen, um nächtelang durcharbeiten zu können. Die Selbstoptimierung hat viele Gesichter und viele Gründe.


Doping hat berühmte Namen: Lance Edward Armstrong, Profi-Radrennfahrer und Triathlet, verlor seine sieben Siege der Tour de France wegen erwiesenen Dopings. Ebenso wie sein deutscher Profi-Radsportkollege Jan Ullrich. Doping war im DDR-Leistungssport staatlich im Geheimen unterstützt. In der alten Bundesrepublik wurde ebenfalls im Leistungssport gezielt gedopt, wenn auch nicht mit staatlicher Unterstützung, so doch zumindest mit Duldung von Regierungsstellen. Mittlerweile ist das im Sport als kriminelles Doping  gebrandmarkte Stigma auch beim Normalbürger in der Muckibude, in der Partyhöhle, auf dem Dance Floor und in der Arbeitswelt sowie im Privatleben angekommen.

„Ich habe immer nur funktionieren, gut dastehen und noch besser aussehen wollen. Andere, die das nicht konnten oder wollten, waren nichts wert.“ Die 45-Jährige will unerkannt bleiben. „Von Kindheit an lernte ich, zu funktionieren. Selbst kleinste Fehler wurden mit Liebesentzug und vollständiger Ignoranz bestraft. Größeren Fehlern folgten Schläge. Immer Ermessenssache und stimmungsabhängig. So lernte ich, vorausschauend zu gehorchen. Nicht nur gegenüber meinen Eltern, generell. Exakt messbare Leistungen, Status, Besitz und ein ständiges bis ins I-Tüpfelchen gutes Aussehen waren meine Wegmarken, rund um die Uhr – bis zum Zusammenbruch. Der kam 2006. Im Betrieb war ich nicht mehr in der Lage, einen sechsstelligen Code einzutippen. Ich hörte alles um mich herum: den Chef, die Kollegen, Kundentelefonate, Lieferantengespräche. Alles war überpräsent, aber den Code kriegte ich nicht hin. Letztlich wurde ich aus betrieblichen Gründen gekündigt, fand einen neuen Job und wurde den ein halbes Jahr später auch wieder los. Depressionen, Dauerkrankschreibung und die Erwerbsunfähigkeitsrente blieben. Dem Kollaps gingen eine schwere Lethargie, ein Hörsturz, ein Selbstmordversuch, eine Scheidung und Mobbing am Arbeitsplatz voraus. Die Schuld sah ich damals immer nur bei mir allein. Ich erinnerte mich an eine Freundin, der es ähnlich ergangen war. Sie hatte sich professionelle Hilfe gesucht. Diesen Weg ging ich auch und fand ebenfalls Hilfe.“ Heute ist die Mutter eines inzwischen erwachsenen Sohnes ehrenamtlich in der Telefonseelsorge tätig. Sie wünscht sich, wieder fit zu werden und für den ersten Arbeitsmarkt bereit zu sein. Doch sie glaubt nicht daran. „Noch nicht.“ Dann kommt ein ernüchterndes Fazit: „Früher hatte ich die falschen Freunde und teilte mit ihnen auch die falschen Werte. Das hat sich komplett gedreht. Was für mich heute wichtig ist, sind Mitgefühl, Fairness, Ehrlichkeit, Vertrauen und Respekt sowie menschliche Wärme. Nichts anderes zählt.“


Rund 92.000 Berufstätige in MV haben nach Angaben der Krankenkasse DAK schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente genommen, um im Job leistungsfähiger zu sein oder um Stress abzubauen. Danach betrieben etwa 14 .000 Erwerbstätige im Land regelmäßig und gezielt Hirndoping. Frauen bevorzugen die Stimmungsaufheller, Männer Leistungssteigerer.

Das bestätigen auch die Schweriner Helios-Mitarbeiter Dr. Detlef Haase,  Klinischer Toxikologe und Fachbereichsleiter im Institut für Laboratoriums- und Transfusionsmedizin, sowie Uwe Ahrendt, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Haase: „Der Betrug mit den Rezepten Verwandter und Bekannter sowie der Handel mit Straßendealern werden zunehmend vom Internet abgelöst. Man weiß nie womit der Stoff gestreckt oder wie er gemischt wurde. Selbst dann nicht, wenn man dieselbe Quelle nutzt. Jedes Präparat hat sein individuelles Risiko.“ Ahrendt: „Selbstoptimierung als persönliche Weiterentwicklung und Verbesserung von Fitness und Leistungsfähigkeit macht dann Sinn, wenn man Maß hält und die langfristigen Konsequenzen berücksichtigt. Ansonsten kann sie zu Burnout, Depression, Sucht oder körperlichen Erkrankungen führen.“

„Mit Pillen kann man sich nicht fit für das Leben machen“, plädiert Horst Eberlein, Propst der Katholischen Kirche Schwerin. „Es läuft immer auf die selbe Frage hinaus: Überlege, was trägt dich durch dein Leben?“

Bildunterschrift 1:
„Los, hoch da!“ Selbst vor unlösbaren Aufgaben will heute kaum jemand kapitulieren. Spaß, Leistung, Image – was zählt, ist das Besondere: Leistungsdenken, Arbeitsverdichtung, permanente personelle Unterbesetzung, ständige Erreichbarkeit und eine Null-Fehler-Toleranz verändern die Selbstwahrnehmung und das Denken. Selbstoptimierung soll alles richten. Foto: Heiko Wruck

Bildunterschrift 2:
Ahrendt/Haase: Hat man ein Warum, zu leben, dann erträgt man auch fast jedes Wie. Übersteuerung, Überlastung und immer höhere Dosen führen zur Medikamentenabhängigkeit. Es geht nicht um Höchstleistungen um jeden Preis, sondern darum, eigene Werte zu leben: Beruf, Familie, Freundschaft, Bildung, Kultur, Mitgefühl ... Fotos: Heiko Wruck

Eberlein: Unsere Gemeinden, ich selbst, die Caritas, die Diakonie oder die Telefonseelsorge bieten auf christlicher Seite Hilfe an, egal ob oder an wen jemand glaubt.

Kontakt:
heiko.wruck@t-online.de
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