Eine mutige Frau in der russischen Provinz
Redaktion: Jürg Vollmer / maiak.info
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Bericht
Von der »Prawda« zum »Krestjanin«
All dies ist ungewöhnlich für Russland, dessen Medien von Männern geführt und vom Staat oder von Oligarchen finanziert werden. Genau so ungewöhnlich wie die Frau, die hinter diesem unabhängigen Verlag und der kritischen Wochenzeitung steht.
Irina Samochina wurde 1971 in Kursk geboren, geografisch und geschichtlich mitten in der Sowjetunion. Ihr Vater war Redakteur der »Prawda«, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, und gründete nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 in Rostow am Don die unabhängige Wochenzeitung »Krestjanin«. Eine der ersten Journalistinnen des »Krestjanin« war seine Tochter Irina, die Journalismus studierte.
Nach dem Studienabschluss 1992 plazierte er Irina Samochina aber nicht in der Redaktion, sondern in der Anzeigenabteilung des »Krestjanin«. 1994 wurde sie Leiterin der Anzeigenabteilung und 1996 absolvierte sie ein sechsmonatiges Praktikum in Deutschland, »das mich persönlich und beruflich stark geprägt« hat, erklärt Irina Samochina.
Das Praktikum war für die junge Journalistin wie für den jungen Verlag eine gute »Investition«. Heute ist Irina Samochina Generaldirektorin des Verlagshauses »Krestjanin« in Rostow. Der grösste unabhängige Verlag im Süden Russlands produziert in seiner eigenen Druckerei vierzig Blätter mit einer Million Gesamtauflage, darunter die kritische Wochenzeitung »Krestjanin«.
Die Scheuklappen russischer Medien
»Wir können kritischer schreiben als die anderen Zeitungen, weil wir nicht dem Bürgermeister von Rostow gehören, nicht dem Gouverneur des Rostower Gebietes und auch nicht dem Kreml!« Irina Samochina stemmt ihre Armee in die Hüften und signalisiert unmissverständlich, wer beim »Krestjanin« den Kurs bestimmt.
Tatsächlich kontrolliert der Staat die meisten Medien direkt auf nationaler (»Rossijskaja Gaseta« von der russischen Regierung) oder lokaler Ebene (TV-Sender TWZ von der Moskauer Stadtverwaltung), indirekt über staatliche Unternehmen ( »Iswestija« von Gazprom-Media) oder staatstreue Unternehmer (»Kommersant« von Alischer Usmanow). Deshalb haben die Medien in Russland viel stärker als in Westeuropa den Blickwinkel ihres Herausgebers: »Und der ist oft so eng, dass zwischen den Scheuklappen nur die Staatsrässon Platz findet.«
Irina Samochina ist stolz auf die Arbeit ihrer kleinen, aber unabhängigen Redaktion: Auf die aufmüpfige Kolumne »Monologe mit Putin« von Marat Usenko und die eigene Rechercheabteilung des »Krestjanin«, die jede Woche ein neues Thema kritisch beleuchtet. Zum Beispiel den Erpressungsversuch des Staatsanwaltes, der vom erfolgreichsten Agrarunternehmer des Rostower Gebietes einen »Zehnten« verlangte, wie ihn früher die Bauern der Obrigkeit abliefern mussten. Als sich der Unternehmer wehrte, wurde er mit einer fadenscheinigen Begründung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. »Krestjanin« recherchierte und berichtete in einer gut dokumentierten Artikelserie darüber, dass in Rostow der Staatsanwalt im doppelten Sinne des Wortes für Erpressungen zuständig ist. Den Justizbehörden blieb nichts anderes übrig, als den Agrarunternehmer vorzeitig zu entlassen.
Die Freude des Staatsanwaltes über diese journalistischen Leistung hielt sich in engen Grenzen. Das wusste auch der Agrarunternehmer, der nach seiner Freilassung den Krestjanin-Redakteuren eine Ikone schenkte – mit den Worten: „Ich mache mir große Sorgen um euch!
Eigene Druckerei und Redaktionsbüros machen »Krestjanin« unabhängig
Noch vor ein paar Jahren hätte die staatliche Druckerei »zufälligerweise« kein Zeitungspapier mehr gehabt, um diese Enthüllungen zu drucken, oder die Justiz hätte die druckfrische Auflage des »Krestjanin« von der Maschine direkt ins Altpapier gebracht. Deshalb baute Irina Samochina im Jahre 2005 eine eigene Druckerei für den »Krestjanin«. Irina Samochina investierte aber auch in die Redaktion, die in einem modernen Bürogebäude mitten in Rostow arbeitet: Sie rüstete die 15 Journalisten der Krestjanin-Redaktion mit modernen Computern und Kommunikationsmitteln aus.
Alleine mit den Abonnementseinnahmen des »Krestjanin« wäre dies unmöglich. Das Abonnement kostet jährlich nur 680 Rubel, umgerechnet 18 Euro für 52 Ausgaben, mehr könnte sich die ländliche Bevölkerung gar nicht leisten.
Der »Krestjanin« erhält Kredite vom Media Development Loan Fund MDLF, vom ungarisch-amerikanischen Financier George Soros, von der Bank Vontobel und der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA finanziert wird. Und Irina Samochina nutzt für ihre kritische Wochenzeitung eine Quersubventionierung mit den Einnahmen aus ihren vierzig Nutzwert-Zeitschriften. Diese Gratisblätter mit hoher Auflage wie »Die Hausapotheke« bringen mit ihren vielen Anzeigen hohe Einnahmen.
Die Zukunft des »Krestjanin« liegt im Internet
Die Zahl der Zeitungs-Abonnenten ist in Russland im ersten Halbjahr 2010 um 4 Prozent gesunken. »Die Existenz der unabhängigen Zeitungen ist heute schon ein Balance-Akt, in Zukunft wird es noch schwieriger«, erklärt Irina Samochina.
Der »Krestjanin« investiert deshalb seit 2008 in das Internet-Portal http://www.krestianin.ru . »Auch wenn wir vorerst keinen Gewinn erzielen, bauen wir den Krestjanin zum innovativen Konvergenz-Medium aus.« Die Redaktion wird neben der gedruckten Wochenzeitung die aktuelle Website mit Audio, Video und anderen Multimedia-Inhalten publizieren.
Ein Problem auf dem steinigen Weg dazu, kann aber auch Irina Samochina nicht zur Seite schaffen: In der russischen Provinz haben erst 21 Prozent der Bevölkerung einen Zugang zum Internet. Und das Interesse der Behörden, allen Bewohnern des Rostower Gebietes schnell Zugang zum Internet und damit zum »Krestjanin« zu verschaffen, hält sich in engen Grenzen.
Bildunterschrift 1:
Irina Samochina ist mit ihrer kritischen Wochenzeitung »Krestjanin« eine der erfolgreichsten unabhängigen Verlegerinnen in Russland. Foto: Jürg Vollmer / maiak.info
Bildunterschrift 2:
Die unabhängige Wochenzeitung »Krestjanin« hat eine eigene Recherche-Abteilung. Foto: Jürg Vollmer / maiak.info
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