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Sonntag, 27. November 2011

Das war doch nicht so schlimm

Alltag im russischen Krankenhaus
von Karen Ebner

REPORTAGE
Regensburg/gc. Für ein Jahr war ich ins russische Saratov, eine schöne Kleinstadt an der Wolga, gekommen – und musste im März 2011 ins Krankenhaus. Eine zwar akute, aber simple Blinddarmoperation.



Unterm Strich war ich nur eine knappe Woche im Krankenhaus. Gut beraten ist, wer eigenes Toilettenpapier mitbringt und die Tabletten selbst einkauft sowie Verbandszeug und Pflaster. Das Essen selbstverständlich auch. Zwar gab es dort eine Mensa, aber wirklich jeder, der in das saratovsche Krankenhaus zu Besuch kam, brachte dieser Mensa wegen Essen mit. Ein ganzes Heer von Kollegen hat mich mehr als nur umsorgt. Der kleine Krankenhauskühlschrank ächzte unter der Last, die in ihn hineingestopft wurde. Eigentlich war der Kühlschrank für alle fünf Patienten des Zimmers gedacht. Paradox war, dass ich das ganze Zeug ja nicht essen durfte: nur Brühe, Wasser und ab dem dritten Tag Kefir. Egal, was schmeckt, wird mitgebracht.

Meine Kollegin Irina hat mir ein Nachthemd gekauft: blau/weiß mit Blümchen, dazu ein rosa Satin-Jäckchen, beides viel zu groß. Am zweiten Tag fing ich an, „herumzuspazieren“ - von einem Ende des Krankenhausganges zum anderen. Meine Bettnachbarin Nastja - klein, pummlig, 19 - suchte mich ständig, weil sie meinte, ich überfordere mich, und stütze mich immer sofort. Meine strengen Blicke hielten sie fast nie davon ab. So zogen wir also los - das große, dürre Gespenst mit seinem kleinen, dicken Kompagnon.

5.30 Uhr begann der Kliniktag. Wir wurden aus den Betten gescheucht und angehalten, Ordnung zu machen für die Morgenvisite des Chefs: Bett zurecht zupfen, Nachtkästchen aufräumen und sich aufhübschen. Meine Zimmerkolleginnen Natascha und Marina haben sich immer Zähne geputzt, Haare gestriegelt und die Nasen gepudert. Unter den Jungärzten, die bei der Visite dabei waren, könnte ja ein potentieller Shenyx (Heiratskandidat) sein. Die beiden anderen, Datan und Nastja, trieben diesen Aufwand nicht, weil sie ja schon verheiratet beziehungsweise verlobt waren.

Sobald die Leute merken, man ist Ausländer, verstehen sie plötzlich auch das beste Russisch nicht mehr. Nur verständnislose Blicke. Die jungen Ärzte waren immer sehr nett, höflich und zurückhaltend, die älteren und erfahreneren nicht immer.

Vor der Operation
Ich kam am Freitagabend mit dem Notarzt ins Krankenhaus. Meine Gastmutter Nadja und meine Kollegin Irina hatten sich Gott sei dank gegen mich verschworen und gegen meinen Willen entschieden, dass ich in die Klinik muss. Schon saß ich in einem gammligen, verrauchten Rettungswagen. Die Rettungssanitäterin untersuchte mich nicht. Sie wirkte wie eine Beamtin, der es nur wichtig war, den Papierkram erledigt zu wissen. Sie hat mich dann ins Krankenhaus gebracht, ins tretaja oblastnaja bolniza - und ist abgerauscht.

Da saß ich nun, heulend und fertig neben zirka acht Ärzten und Schwestern, die sich nicht die Bohne für mich interessierten. Irgendwann kam eine Schwester, drückte mir ein kleines Glasfläschchen in die Hand und meinte: „Analysis!“ Die Toilette zu finden, gar nicht so einfach. Ich bin auch gar nicht so weit gekommen, sondern kippte kurz vorher aus dem Stand um. Der Arzt zu Irina: „Was haben Sie denn mit Ihr gemacht?“ „Was wohl, ich hab ihr ‘nen Tritt gegeben, was glauben Sie denn?“

Ich wurde in einen Rollstuhl gesetzt, wieder zurück ins Ärztezimmer kutschiert, auf eine Liege verfrachtet, und dann kam der kleine Denis. Der war grob, unhöflich und hätte besser in eine Metzgerei gepasst. Er drückte mir fest auf dem Bauch herum, zuckte die Schultern und ging.

Im Rollstuhl ging es dann zum Ultraschall. Die Schwester bellte wie ein Hofhund, knallte mir das Gel auf den Bauch und sagte immer wieder was. Weil ich ihr Gerede nicht immer gleich verstand, wurde sie extrem aggressiv. Ich: „Sorry, ich bin Deutsche und verstehe nicht so gut.“ „Weißt du, das ist mir vollkommen egal!“ Fertig! Warum irgendein Tuch zum Abwischen bekommen, wenn man auch wunderbar mit dem Schlonz auf dem Bauch rumlaufen kann. Danach kamen das Röntgen und eine erneute Ohnmacht.

Mein Chirurg fragte mich kurz vor der Operation, nachdem ich zweimal in Ohnmacht gefallen war: „So, jetzt sag mir doch mal was du hast?“ „Keine Ahnung, ich dachte, dass ist Ihr Job, das herauszufinden?“ „Du sollst nicht denken, Frauen denken eh zuviel. Und nein, mein Job ist es, dich aufzuschneiden!“ Ganz lustig ... Denis Anatolevitsch, der Chirurg, und ich hatten zwar einen ziemlich schlechten Start, aber irgendwie hab ich mich an seinen Humor gewöhnt.

Zur Mutter meiner Zimmernachbarin Marina, die auch am Blinddarm operiert wurde, meinte er, als sie Einwände hatte, dass ihre Tochter sowohl Antibiotika-Spritzen als auch Tabletten an einem Tag bekommt: „Sie sollen nicht denken, sondern nur machen, was ich sage. Wie viele Finger halte ich hoch?“ „Zwei.“ „Na also, das war doch gar nicht so schwer – also Spritze und Tabletten! In Russland kann man nicht zuviel Antibiotika bekommen.“ Und nun zu mir gewandt: „Nicht wahr, Nemka (Deutsche)?“ Ich antwortete ihm: „Bei dem medizinischen Standard hier ist es wohl besser, ja?“ Er mich nur angestarrt, gegrinst und ging.

Zwischendurch kam sich das Krankenhauspersonal regelmäßig in die Haare. Man schrie sich gegenseitig an und man kümmerte sich nicht im Geringsten darum, dass  das unprofessionell ist. Schließlich hieß es: „Wir behalten Sie über Nacht zur Beobachtung hier.“ Ich weigerte mich: „Ja ni ostanus´ zdes´, v etom sumaschedschem dome!“ (Ich bleib nicht in diesem Irrenhaus!). Irina versuchte mich zu beruhigen: „Karen, das ist eines der besten Krankenhäuser der Stadt!“ Ich hatte keine Wahl und musste bleiben.

Dann kam ich auf mein Zimmer. Irina und Nadja haben sich verabschiedet. Sie waren keine fünf Minuten aus der Tür, da kam ein zweiter Chefchirurg, hat mich noch mal untersucht, meinte dann zu Denis Anatolivitsch: „Das ist zu 100 Prozent der Blinddarm. Wir müssen gleich operieren.“ Zu mir: „Sie haben fünf Minuten, um zu überlegen, ob sie einwilligen oder nicht.“ Weg war er. Ich gab meine Einwilligung, da war es schon 3 Uhr morgens.

Die Operation
Die Krankenschwester kam rein und sagte, ich solle ihr folgen. Die Schmerzen waren in dem Moment schon wieder so, dass ich zumindest gehen konnte. Sie führte mich in einen kleinen Raum, in dem neben der Heizung auf dem viele kleine, offene Urinfläschchen standen. Deswegen wohl auch der unangenehme Geruch. Dann drückte sie mir eine Schüssel in die Hand und packt in Seelenruhe einen Schlauch aus. Meine Augen wurden immer größer. Schlauch in den Hals, fertig. „Das war doch nicht so schlimm.“ Doch, war es! Dann ging es wieder aufs Zimmer. Mit Hilfe des Schlauchs sollte alles, was noch im Magen war rausgeholt beziehungsweise gewürgt werden.

Wieder die Krankenschwester: „Kommen sie mit.“  Ich trotte hinter ihr her in den OP und marschierte, so wie ich war, einfach rein - in Schuhen und Klamotten.  Der Raum war groß, in der Mitte stand eine Liege mit einer Armstütze, darüber eine Riesenlampe, keine Geräte. Schaut irgendwie aus wie eine Hinrichtungsliege, denke ich. Wahrscheinlich setzten sie mir gleich eine Giftspritze.

Den Pulli ausziehen, auf die Liege legen, Tropf dranhängen, warten. Um die aufkommende Panik zu unterdrücken, konzentrierte ich mich auf eine Spinne an der Decke. Ein Streitgespräch dringt aus dem Hintergrund an mein Ohr. Irgendwer fehlt. Ohne ihn kann die OP nicht durchgeführt werden. Ein Handy klingelt. Der Chirurg, der Stimme nach Denis Anatolevitsch, schimpft ins Telefon. Dann plötzlich sein Gesicht vor meiner Nase:  „Wollen sie lokale Betäubung mit drei Spritzen in den Rücken oder ganz ...? „Natürlich ganz.“

Die Spinne ist weg, alles ist hell, mir ist schlecht, viel zu heiß und ich bekomme kaum noch Luft. Ich rede – glaub ich – mit mir, mit jemanden, keine Ahnung. Ah ,die kenn ich, das ist doch die Krankenschwester „... ticho, ticho ...“, höre ich, ...ruhig, ruhig ... Mir ist heiß, ich kriege keine Luft. Vielleicht bin ich schon tot? Oh, ich bewege mich, wohin geht’s denn? Wo bin ich denn jetzt? Gott, ist mir schlecht. Ich will heim. Oh, die zwei Lampen an der Wand, die kommen mir bekannt vor. Das ist doch das Krankenzimmer. Also doch am Leben ... Ich weiß wirklich nicht, wie sie die Betäubung gemacht haben. Aber es war ein ziemlicher Film, der sich da in meinem Kopf abspielte.

Der Tag danach
Eine SMS schreiben, übergeben. Zwei Sätze sprechen, übergeben. Die Augen geschlossen, übergeben. Irgendwann gab es Spritzen, und es wurde besser. Der Verband auf meiner Narbe war nicht fest genug. Die Wunde blutet stark. Nastja sucht die Krankenschwester. Sie komme gleich. Eine Stunde später kommt sie tatsächlich. Ich bekomme einen neuen Verband, aber kein neues Bettzeug. Der Verband wurde täglich gewechselt, es war tatsächlich der vollgeblutete Bettbezug, der nicht gewechselt wurde.

Wieder zu Hause
Alles ist gut, bin froh, dass es überstanden ist. An diese erlebte Landeskunde wird mich künftig eine sieben Zentimeter lange Narbe erinnern. Was nicht umbringt, macht nur härter.

Am Montag kommen die Fäden raus. Die Narbe ist nicht schön. Aber ich darf wieder essen, was ich will oder  kann. Wird auch Zeit, ich habe sehr abgenommen.

Ich habe eine private Auslandskrankenversicherung, bei der ich das Geld vorstrecken muss und es dann in Deutschland wiederbekomme. Der Arzt hat schon während meines Aufenthalts gesagt, dass es wohl zwischen 7000 und 10000 Rubel kosten wird: 200 bis 250 Euro. Das nenn’ ich preiswert.

Am Ende habe ich gar nichts zahlen müssen, denn es war eine extrennaja operacia. Das bedeutet, dass ich in einem  lebensgefährlichen Zustand gewesen bin. In solchen Fällen, werden die OP und die Nachversorgung kostenlos durchgeführt. Ein Hoch auf das russische Gesundheitssystem!

Karen Ebner
karen_ebner(at)yahoo.de
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