Benutzt, verteufelt, totgeschwiegen
Redaktion: Goethe-Universität Frankfurt am Main
PRESSEMITTEILUNG
Frankfurt am Main/gc. Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Julia König legt eine historische Studie zum Begriff der kindlichen Sexualität vor. Sie weist darin nach, dass sich Im Zuge der Veränderungen sozialer Verhältnisse auch sexuelle Ordnungen ändern, dabei verwischt die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen in sexueller Hinsicht. Erst wenn sich die Verhältnisse stabilisiert haben, kommt es wieder zu einer klareren Unterscheidung.
Der Begriff „kindliche Sexualität“ ist wie ein Brennglas: Er zeigt, welche Einstellungen über Sexualität einerseits und über Kindheit andererseits in einer Gesellschaft vorherrschen. Dass diese Einstellungen sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verändert haben, das hat die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Julia König in ihrer Dissertation „Kindheit – Sexualität – Kindliche Sexualität“ nachgewiesen. Für die historisch-systematische Begriffsstudie hat König den Cornelia Goethe-Preis für herausragende wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Frauen- und Geschlechterforschung erhalten. Verliehen wird dieser Preis vom Förderkreis des Cornelia Goethe-Centrums an der Goethe-Universität.
Ursprünglich sollte eine empirische Studie über kindliche Sexualität entstehen; die Daten hierfür hat Julia König in Kindertagesstätten erhoben. Bei ihrer Begriffsrecherche ging Julia König dann jedoch immer weiter zurück, und schließlich wurde eine historische Arbeit daraus, die „kindliche Sexualität“ zu unterschiedlichen Zeiten unter die Lupe nimmt. Die empirische Studie, bei der sich König auf den Freudschen Begriff einer eigenen, lustbezogenen kindlichen Sexualität bezieht, soll als zweite Publikation folgen.
Gibt es in der Gesellschaft einen Begriff von „Kindheit“? Wie ist „Sexualität“ definiert? Und wird Kindern eine eigene Sexualität zugestanden? Diese Fragen richtete Julia König an die unterschiedlichen Epochen, genauer an die überlieferten literarischen und bildlichen Quellen. Wobei sie sich des Ausschnitthaften der Quellenlage bewusst war: Kommen in den Texten und Bildern, die aus früheren Zeiten erhalten sind, doch nie die Kinder selbst zu Wort, vielmehr haben ausschließlich Erwachsene für die Überlieferung gesorgt.
So zum Beispiel der griechische Philosoph Platon in seinem Werk „Symposion“, in dem er die griechische Knabenliebe beschreibt. Das Verhältnis zwischen Erastes und „seinem“ Lustknaben war nach damaliger Auffassung ein Geben und Nehmen: Für seinen Dienst konnte der Jüngere erwarten, vom Älteren in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Lust war auf Seiten des Knaben wie bei anderen bloßen Objekten wie Frauen oder Sklaven nicht vorgesehen. Allerdings gab es für die Knabenliebe eine Altersgrenze: Der Bartwuchs sollte bereits eingesetzt haben, Kinder standen hier noch nicht im Fokus.
Mit dem antiken Kirchenlehrer Augustinus kam dann der Begriff der Erbsünde ins Spiel, die allen Menschen innewohnt, und die nur durch die Taufe gemildert werden kann. Das Verhältnis der Seele zum Körper wurde im Vergleich zur griechisch-römischen Antike stark umgedeutet, und im Zuge dieser starken Umdeutung wurde auch dem Kind die Erbsünde zugeschrieben. Im 5. Jahrhundert dann wurde – für Kinder genauso wie für Erwachsene – die Pflicht zur Beichte eingeführt, und erst 1215 wurde mit dem 4. Laterankonzil eine Differenzierung nach Alter etabliert. Ähnlich verhielt es sich mit der Hexenverfolgung: Zu Beginn gerieten alle Altersklassen ins Visier der Inquisition, durch ihre fantasievollen Erzählungen wurden Kinder in den späteren Phasen der Hexenverfolgung sogar besonders leicht in die Hexenprozesse hineingezogen. Erst später wurde eine rechtliche Grenze auf der Grundlage des Lebensalters eingeführt.
Immer wieder fand König ihre Eingangshypothese bestätigt, die da lautete: Im Zuge der Veränderungen sozialer Verhältnisse werden auch sexuelle Ordnungen umgewälzt, dabei kommt es zu einer Nivellierung der Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen in sexueller Hinsicht. Erst wenn sich die Verhältnisse wieder stabilisiert haben, kommt die Gesellschaft wieder zu einer klareren Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen.
Vor diesem Hintergrund sieht König auch in unserer heutigen Zeit die Anzeichen einer Umbruchphase. Der Blick auf kindliche Sexualität sei derzeit von großen Widersprüchen geprägt: Einerseits werden Kinder in Modekatalogen zu kleinen Erwachsenen stilisiert, andererseits haben viele Menschen gerade vor dem Hintergrund zahlreicher Missbrauchsfälle Schwierigkeiten, Kindern eine eigene Sexualität zuzugestehen und offen mit ihnen zu kommunizieren. In den Vorarbeiten zu ihrer empirischen Arbeit hat König mit einer kleinen Anzahl von Kindern und Eltern in Kindertagesstätten gearbeitet. Die empirische Basis besteht aus Interviews und Beobachtungen, die König im Kita-Alltag gemacht hat. In zwei Jahren will sie die tiefenhermeneutische Analyse ihrer Daten veröffentlichen; aber schon jetzt weiß König: „Es müsste eine Sprache geben, in der gerade in pädagogischen Einrichtungen über kindliche Sexualität gesprochen werden kann. Wenn wir klarer über das Thema sprechen könnten, könnte man auch genauer hinsehen und differenzieren, ob bei einem Kind zum Beispiel zu Hause etwas nicht stimmt“, ist König überzeugt.
Informationen:
Dr. Julia König
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