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Mittwoch, 2. September 2015

Ortsnahe Gerichtsbarkeit ist Standortfaktor

MVs Gerichtsstrukturreform schwächt Unternehmerrechte
von Stefan Graßhoff
KOLUMNE
Die Regierungskoalition aus SPD und CDU hat im Oktober 2013 das „Gerichtsstrukturneuordnungsgesetz“ beschlossen. Dieses geht zurück auf den Koalitionsvertrag der Regierungskoalition von 2011. Die Reform sieht insbesondere die Schließung von 11 der 21 Amtsgerichte, die Zusammenlegung der Arbeitsgerichte Stralsund und Neubrandenburg und die Verlegung des Landessozialgerichts von Neubrandenburg nach Neustrelitz vor.

Dieses weitgreifende Gesetz wurde nach weithin
erhobener Kritik an dem Reformvorhaben beschlossen:
● ohne belastbare Analyse des konkret bestehenden Reformbedarfs,
● ohne nachvollziehbare Prüfung der Notwendigkeiten aus
   der demografischen Entwicklung,
● ohne Prüfung von Alternativen zu den umfangreichen
   Standortschließungen, einschließlich ihrer zeitlichen Einordnung und
● ohne Prüfung der wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere
   der Abwälzung der finanziellen Lasten auf die rechtssuchenden Bürger,
   auf Unternehmen, auf Kommunen und Landkreise und die Mitarbeiter
   der Justiz.

Dabei wurden die vielfältigen und gründlich unterlegten Bedenken, insbesondere die Sachargumente gegen die Eignung von Zweigstellen als angeblicher Ersatz für sechs Amtsgerichte, trotz Anhörung im Landtag nicht berücksichtigt. Die Reform greift massiv in die funktionierende Gerichtsstruktur unseres Landes ein und gefährdet damit die ortsnahe Rechtsgewährung.

Schon die Kreisstrukturreform und die Polizeireform haben die angeblichen positiven Effekte für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in unserem Land nicht erkennen lassen. Die Verwaltung ist weder schneller, noch effektiver und schon gar nicht kostengünstiger geworden. Das Hauptargument für die genannten Reformen, nämlich der Bevölkerungsschwund durch den demographischen Wandel, gilt nicht mehr. Nach neuesten Erhebungen wächst die Bevölkerung in unserem Land wieder!

Die vorgesehenen Gerichtsschließungen sind teilweise bereits vollzogen. Trotz des laufenden Volksbegehrens und sogar noch nachdem durch das Volksbegehren die notwendigen 120.000 Bürgerstimmen erreicht worden sind, hat sich die Landesregierung geweigert, den weiteren Vollzug der Gerichtsschließungen bis zur endgültigen Entscheidung über das Volksbegehren auszusetzen. Gegen den Bürgerwillen werden Fakten geschaffen.

Durch die Gerichtsschließungen entstehen in unserem Land die bundesweit vier größten Amtsgerichtsbezirke, teilweise sind diese größer als die Gesamtfläche des Saarlandes. Die hieraus resultierenden Folgen für Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmerinnen und Unternehmer, sind beträchtlich. Durch die großen räumlichen Distanzen zu den zukünftigen wenigen Amtsgerichten entstehen erhebliche Fahrzeiten, die teilweise mit bis zu zwei Zeitstunden geschätzt werden müssen – für eine Strecke. Ist ein Besuch des Amtsgerichts für Bürgerinnen und Bürger mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus ländlichen Gebieten innerhalb eines Tages kaum noch möglich, werden auch kleine Gerichtsverfahren für Unternehmerinnen und Unternehmer schon wegen des Zeitaufwandes zu einem betriebswirtschaftlichen Risiko.

Schon mit der Kreisgebietsreform und der Polizeireform hat sich der Staat aus der Fläche zurückgezogen. Kleinere Gemeinden und die Mittelzentren in unserem Land, auf welche sich die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Unternehmen konzentrieren, werden zunehmend von der staatlichen Verwaltung abgekoppelt, nun auch von der Justiz.

Dabei vergisst die Landesregierung, dass eine schnelle, effektive, aber eben auch ortsnahe Justiz, gleichermaßen wie Verwaltung oder Polizei, nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger ein wesentlicher Baustein der Lebensvorsorge, sondern auch für die Unternehmerinnen und Unternehmer ein wichtiger Standortfaktor ist.

Nach der Reform ist vor der Reform. Zu befürchten ist, dass es auch mit diesen weitereichenden Gerichtsschließungen kein Bewenden hat. Warum soll es für nur zehn Amtsgerichte denn vier Landgerichte geben? Genügen nicht auch zwei? Können nicht auch die für Unternehmer wichtigen Arbeitsgerichte noch weiter reduziert werden, gleichfalls die Sozialgerichte? Benötigen wir überhaupt ein Oberlandesgericht und ein Finanzgericht, kann das nicht von Hamburg aus miterledigt werden? Können die gerade erst geschaffenen Zweigstellen der Amtsgerichte nicht doch endgültig geschlossen werden?

All dies ist für die Zukunft zu befürchten. Alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben am 6. September 2015 erstmalig in der Geschichte unseres Bundeslandes die Chance, durch direkte Abstimmung diese nachteiligen Entwicklungen aufzuhalten, und zwar mit der Teilnahme an der Volksabstimmung und der Abstimmung mit JA für das Volksbegehren.

Bildunterschrift:
Rechtsanwalt Stefan Graßhoff, Präsident der Rechtsanwaltskammer Mecklenburg-Vorpommern: Wer gegen die Gerichtsstrukturreform ist, stimmt mit Ja. Foto: tokati Medienagentur

Kontakt:
grasshoff@rechtsanwaelte-giw.de
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