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Sonntag, 24. September 2017

Natürliche Darmflora kann MS auslösen

Keine „Fäkaltransplantation“, man weiß nie, was drin ist
Redaktion: Max-Planck-Institut für Neurobiologie
PRESSEMITTEILUNG
Martinsried/gc. Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Als Auslöser für die Krankheit, bei entsprechender genetischer Veranlagung, stehen seit einigen Jahren Bakterien der natürlichen Darmflora unter Verdacht.


Hartmut Wekerle und Gurumoorthy Krishnamoorthy von den Max-Planck-Instituten (MPI) für Neurobiologie und für Biochemie konnten nun mit ihren Kollegen von der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem MPI für Immunbiologie und Epigenetik und den Universitäten von California (San Francisco) und Münster erstmals zeigen, dass die Darmflora an MS erkrankter Patienten eine MS-ähnliche Krankheit im Tiermodell auslösen kann.

Bei Autoimmunerkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS) greifen fehlgeleitete Zellen des Immunsystems körpereigne Zellen im Gehirn und Rückenmark an. Der von autoaggressiven T-Zellen ausgelöste Angriff schädigt die betroffenen Nervenzellen und führt zum Abbau ihrer Hüllschicht. Zellen sterben ab und Nervenreize werden nicht mehr korrekt weitergegeben.

Potentiell autoaggressive T-Zellen hat jeder Mensch, doch sind die Zellen in der Regel lebenslang im „Schlafzustand“. Bei manchen Menschen wird jedoch das pathogene Potential dieser Zellen geweckt – es kommt zum Ausbruch der MS. Den Grund für diese Aktivierung vermuten Wissenschaftler in einer Kombination aus Genetik und Umweltfaktoren. „Wir kennen mittlerweile mehr als 200 Gene, die den Menschen für eine MS-Erkrankung empfänglich machen“, erklärt Hartmut Wekerle, Hertie-Professor und Emeritus-Direktor am MPI für Neurobiologie. „Damit es zum Ausbruch kommt, braucht es jedoch einen Auslöser, der bisher im Umfeld von Infektionen gesucht wurde.“

Vor einigen Jahren fanden der Neuroimmunologe, zusammen mit seiner Mitarbeiterin Kerstin Berer und Gurumoorthy Krishnamoorthy, der mittlerweile eine eigenständige Forschungsgruppe am MPI für Biochemie leitet, dass dieser Auslöser vermutlich in der natürlichen Darmflora zu suchen ist. Mit weiteren Kollegen konnten die Forscher zeigen, dass Mikroorganismen im Darm genetisch veränderter, autoimmuner Mäuse T-Zellen aktivieren konnten, worauf die Tiere eine der menschlichen Erkrankung ähnliche Entzündung im Gehirn entwickelten.

Grundlagenforschung mit klinischem Bezug
Nachdem im Tierversuch gezeigt werden konnte, dass Darmbakterien die MS auslösen können, untersuchte und verglich eine Vielzahl von Studien die Zusammensetzung der Darmflora von gesunden und an MS erkrankten Menschen. „Die genetische Diversität dieser Menschen und ihrer Darmflora machte es jedoch sehr schwer, konkrete Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen“, so Wekerle. „Zudem sagt das Vorhandensein eines bestimmten Mikroorganismus bei MS-Patienten noch nichts darüber aus, ob dieser tatsächlich eine Funktion bei der Krankheitsentwicklung übernimmt. Das kann nur mit Hilfe von Tierversuchen geklärt werden.“ Diese Schwierigkeiten umgingen die Forscher nun in einem großen Kooperationsprojekt, in dem sie klinische Untersuchungen und Grundlagenforschung eng miteinander verknüpften.

Die Grundidee des Kooperationsprojekts war der Vergleich der Darmflora eineiiger Zwillingspaare. In seltenen Fällen haben MS-Patienten eineiige Zwillingsgeschwister, wobei in den meisten dieser Fälle dann nur ein Zwilling an MS erkrankt, während der andere gesund ist. Dies ist ein Hinweis dafür, dass bei der MS-Entstehung andere als nur genetische Faktoren wirksam sind. Im Rahmen des Kooperationsprojekts rekrutierten Lisa Ann Gerdes, Reinhard Hohlfeld und ihre Kollegen vom Institut für Klinische Neuroimmunologie der Universität München (LMU) deutschlandweit eine einzigartige Kohorte von mittlerweile mehr als 50 eineiigen Zwillingspaaren, bei denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt ist. Da jedes Zwillingspaar genetisch identisch ist, sollten sich auf diese Weise MS-relevante Unterschiede der Darmflora aufdecken lassen. Denn der Einfluss der menschlichen Gene auf die Darmflora kann bei den paarweisen Vergleichen vernachlässigt werden.

Beim Vergleich der Darmflora der Zwillinge zeigten einige interessante, wenn auch subtile Unterschiede. „Richtig spannend wurde es jedoch, als wir die keimfrei gehaltenen, genetisch veränderten Mäuse mit den jeweiligen menschlichen Mikrobiomen impften“, berichtet Guru Krishnamoorthy. Tiere, die Darmfloraproben der MS-kranken Zwillinge bekamen, erkrankten zu fast hundert Prozent an der MS-ähnlichen Hirnentzündung. Die Untersuchungen bestätigten erstmals, dass Bestandteile der Darmflora von MS-Patienten eine funktionelle Rolle bei der T-Zellaktivierung spielen und somit ein Auslöser für die Multiple Sklerose beim Menschen sein können.

„Nun kommt es darauf an, die in Frage kommenden Mikroorganismen weiter einzugrenzen und zu untersuchen“, so Hartmut Wekerle. Der Mediziner gibt jedoch zu bedenken, dass sich die Untersuchungen sicher über Jahre hinwegziehen werden und nach wie vor offen ist, ob und welche Diagnose- und Therapieverfahren daraus entstehen können. Von der derzeit in den Medien diskutierten „Fäkaltransplantation“ von gesunden Menschen auf MS-Patienten als „schnelle Hilfe“ hält er allerdings nichts: „Da weiß man nie genau, was drin ist!“

ORIGINALVERÖFFENTLICHUNG:
Kerstin Berer, Lisa Ann Gerdes, Elge Cekanaviciute, Xiaoming Jia, Liang Xiao, Chuan Liu, Luisa Klotz, Uta Stauffer, Sergio E. Baranzini, Tania Kümpfel, Reinhard Hohlfeld, Gurumoorthy Krishnamoorthy, Hartmut Wekerle
Gut microbiota from Multiple Sclerosis patients enables spontaneous autoimmune encephalomyelitis in mice
Proceedings of the National Academy of Sciences, 11 September 2017

KONTAKTE:
Dr. Stefanie Merker
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
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Prof. Dr. Hartmut Wekerle
Max-Planck-Institut für Neurobiologie
hwekerle@neuro.mpg.de

Dr. Christiane Menzfeld
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried
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menzfeld@biochem.mpg.de

Dr. Gurumoorthy Krishnamoorthy
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Prof. Dr. med. Reinhard Hohlfeld
Institut für Klinische Neuroimmunologie
Klinikum der Universität München (LMU)
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