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Montag, 25. September 2017

Wo beginnt die Zerstörung der Menschenwürde?

Abbau des Sozialstaates und der Wohlfahrtspolitik
von Heiko Wruck
AUFSATZ
Es gibt eine interessante Theorie des österreichischen Schriftstellers und literarischen Philosophen Robert Menasse. Der meint: „Die europäische Idee entstand in den Vernichtungslagern der Nazis.*“

In den Nazi-Lagern war es egal, welche Nationalität ein Inhaftierter hatte, wer zu welcher Ethnie gehörte, wer welche Hautfarbe trug oder wer sich zu welcher Religion oder Ideologie bekannte. Fast ausnahmslos alle Inhaftierten hatten die gleichen Wünsche: Frieden, Freiheit, Menschlichkeit, Rechtmäßigkeit, Gerechtigkeit, Hilfe, Überleben. Wohl niemand wäre in den Lagern auf die Idee gekommen, dies nur für die eigene Gruppe zu fordern – so die Begründung der These.

Aus dem durch die Nazis verbrannten Europa wuchs schließlich die Europäische Union (EU). Doch sie hat einen gravierenden Geburtsfehler. Die EU wurde nicht von Menschenfreunden, Gutmenschen oder Humanisten auf den Weg gebracht, sondern von Menschen, die einfach nur Kasse machen wollten. Dies tun sie immer noch, und sie werden es auch weiterhin tun. Denn die EU stellt den Rahmen für den immer weiter um sich greifenden Abbau des Sozialstaates.

Der Wohlfahrtsstaat zieht sich seit vielen Jahrzehnten immer weiter aus seiner unmittelbaren Verantwortung für die Gesellschaft zurück. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Der Staat überträgt seine Zuständigkeitsbereiche der sozialen Daseinsfürsorge an den Markt. Das passierte massiv seit den Amtsübernahmen von Margaret Thatcher, 1979 in Großbritannien, Ronald Reagan, 1981 in den USA, und schwappte mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 auch nach Deutschland. Diese drei politischen Vertreter an den Staatsspitzen der größten westlichen Wirtschaftssysteme stehen für den Wechsel vom Keynesianismus (die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als entscheidende Größe für Produktion und Beschäftigung) zum radikalen Markliberalismus (Privat statt Staat). Seither haben sich bis zum heutigen Tage radikalliberale Politikmuster Europa sowie in den USA behauptet. Alles, was einen sozialen Anspruch hat, steht zur Disposition.

So werden in Griechenland, Spanien, Portugal und in Italien die Weichen für eine radikale Marktliberalisierung und einen dramatischen, existenzbedrohenden Sozialabbau gestellt, der auch die Nordeuropäer erreicht. Hartz IV, die Aufweichung des Kündigungsschutzes, Ein-Euro-Jobs und der Mindestlohn sowie die „Entlastung der Unternehmen“ von Steuern und Sozialabgaben sind nur einige dieser Wegmarken.

Die Folgen sind die Korrosion und Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts – durchaus auch auf internationaler Ebene. In Frankreich und in den Niederlanden sind die Rechtsextremen mittlerweile die zweitstärksten Kräfte in den Parlamenten. In den Niederlanden steht ein sogenannter Rechtskonservativer an der Spitze des Staates. In Österreich waren Rechtskonservative an der Landesregierung beteiligt. Seit 2015 stellen die Rechtskonservativen in Polen die stärkste politische Kraft und sind die Alleinregierung. Ebenfalls ein Rechtskonservativer steht in Ungarn an der Staatsspitze. In Deutschland ziehen 2017, also 72 Jahre nach dem Untergang des Nazi-Reiches, erstmals wieder Rechtsextreme in den Bundestag als drittstärkste Fraktion ein.

Mit dem Abbau des Sozialstaates und der Wohlfahrtspolitik sowie des gesellschaftlichen Zusammenhalts entstehen Feindbilder. Die werden von Extremisten benutzt, um die Menschen gegeneinander aufzustellen. Zuerst werden die Gruppen im eigenen Land gegeneinander aufgestellt und eliminiert, danach die Nationen. Es erfolgt immer nach dem gleichen Muster – egal ob Erbfeindschaft, Judenverfolgung, Anti-Terrorkampf, ethnische Säuberung, Religionskrieg, Ideologie oder der Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden. Die Kette dieser Mechanismen ist immer gleich: ● Identifikation ● Ausgrenzung ● Entrechtung ● Enteignung ● Konzentration ● Vernichtung.

Und hier schließt sich der Kreis zu Robert Menasses These: „Die europäische Idee entstand in den Vernichtungslagern der Nazis.“ Während die Entsolidarisierten in Lagern zugrunde gehen, werden die zur Gruppe gehörenden auf den Schlachtfeldern ihrer Abgrenzung aufgerieben. Wer das nicht will, muss sich wie Robert Menasse fragen: „Wo beginnt die Zerstörung der Menschenwürde?“

*Zeitung Neues Deutschland vom 16./17. September 2017, Seite 19, Gespräch mit  Robert Menasse „Utopien sind eine Marzipankarotte“

Kontakt:
Heiko Wruck@t-online.de
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