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Mittwoch, 12. Juli 2023

Die Festung Europa zerbricht!

Klimawandel und Nationalismus bringen den Niedergang
... von Heiko Wruck
AUFSATZ
Lassahn/gc. Das Klima ist so wechselhaft wie die Menschen.

Da gibt es die Leugner des Klimawandels. Entweder findet er gar nicht statt oder es hat ihn schon immer gegeben. In jedem Fall aber ist die Menschheit keinesfalls schuld am gegenwärtigen Klimazustand. Deswegen kann sie den Klimawandel weder verzögern noch aufhalten oder gar umkehren. Wenn dem schon so ist, dann können die Menschen in Sachen Ressourcenverbrauch, Energiebeschaffung und Umweltzerstörung auch genauso weitermachen wie bisher. Das alles hat höchstens einen minimalen Einfluss auf den Klimawandel, wenn überhaupt.

Die Klimaaktivisten sind die Gegenspieler der Klimaleugner. Sie versuchen mehr oder weniger radikal ihren Mitmenschen begreiflich zu machen, dass die Menschheit ihren Teil der Verantwortung am Klimawandel übernehmen muss. Jeder Einzelne soll im Kleinen seinen Beitrag leisten und die Politik im Großen. Damit lässt sich der Klimawandel zwar nicht rückgängig machen. Doch wenigstens könnte er teilweise abgeschwächt werden, so die Hoffnung.

Den Technologie-Befürwortern ist es egal, ob es den Klimawandel gibt und ob er sich beeinflussen lässt. Sie setzen allein auf technische Lösungen, um mit den widrigen Verhältnissen möglichst komfortabel umzugehen.

Die Moralisten empfinden den Klimawandel als eine Art gerechter Gottesstrafe. Die Natur präsentiert der Menschheit ihre Rechnung für deren jahrhundertelanges Fehlverhalten. Je stärker der Klimawandel spürbar wird, umso größer ist die Bestätigung der Moralisten. Sachliche Konzepte sucht man vergebens.

Zwischen den oben genannten Positionen stehen die Relativisten. Bei ihnen haben alle ein bisschen recht. Ihre Hoffnungen stützen sich auf einen grünen Kapitalismus mit technologischen Lösungen. In Verbindung mit den Selbstheilungskräften des Planeten und vor dem Hintergrund  globaler klimatischer Entwicklungen wird es den Menschen ihrer Ansicht nach gelingen, durch Vernunft und Wissenschaft die Klimaverwerfungen erträglich zu gestalten. Die Verbindung von Technologie, politischer Disziplin, persönlichem Verhalten und Naturzyklen spielt in dieser Mythologie die Hauptrolle.

Oft schließen sich diese genannten Fraktionen zu zeitweiligen Bündnissen zusammen. Dabei sind diese Lagerbildungen sehr wechselhaft. Populisten bevorzugen Koalitionen von Fraktionen, deren Anhänger möglichst wenige Einschränkungen für sich persönlich akzeptieren. Wenn schon der Klimawandel bekämpft werden muss, dann woanders. „Deutschland kann das Klima nicht alleine retten“, lautet hier ein gern benutzer Slogan.

Autokraten verbünden sich gerne mit Technokraten. Die Kombination von Technologie, Marktliberalität und Staatsräson ist wirtschaftlich und staatspolitisch verlockend. Mit ihr lässt sich sehr viel Geld verdienen und gleichzeitig ein Land gut regieren. Moralisten, Technologie-Befürworter und Relativisten werden von persönlicher Verantwortung komplett befreit. Wenn jemand schuld hat, dann sind es die Eliten und ihre Helfer da oben. Eine starke Führungspersönlichkeit soll die Eliten entmachten, für Gerechtigkeit sorgen und wirksame Lösungen für den Klimawandel auf dem kurzen Dienstweg durchsetzen. Was der Autokrat sagt, ist Gesetz. Klappt es nicht, ist er allein schuld.

Alle Strömungen haben ein gemeinsames Charakteristikum: die Unfähigkeit zum Konsens. Mancher Autofahrer würden am liebsten die Klimakleber über den Haufen fahren oder zumindest wegsperren. Auch ohne Gerichtsverfahren. Die Klimakleber würden gern weltweit den Verkehr lahmlegen, um die Politiker und (!) ihre Mitmenschen in die Vernunft zu zwingen. Radfahrer favorisieren rigeros autofreie Innenstädte. Kleinstädter und Bewohner ländlicher Gebiete schwören auf den automobilen Individualverkehr. Was im Kleinen nicht funktioniert, das funktioniert auch im Großen nicht. Staatenlenker befürchten die Schwächung des eigenen Landes gegenüber den Konkurrenten, wenn sie als Vorreiter im Alleingang den Klimaschutz bei sich zu Hause massiv stärken. Sie sagen sich: Wenn der Nachbar deutlich CO₂ einspart, kann man selbst mehr CO₂ emittieren, wenn unterm Strich die Bilanz wieder stimmt.

Damit bleibt nur noch zu fragen, was wir eigentlich retten wollen? Das Klima oder unsere heute bestehende Ordnung? Gelingen wird vermutlich keines von beiden. Das Klima lässt sich nicht retten, weil es global kein geschlossenes Handeln geben wird. Würde es weltumspannend ab morgen eine radikale Umkehr klimaschädlichen menschlichen Verhaltens geben, dann müsste dieser Zustand etwa 200 Jahre lang anhalten, um die ersten weltweiten klimatischen Veränderungen langfristig in gang zu setzen. Das ist der Zeitraum, den die globale Industrialisierung bisher zurückgelegt hat. Der radikale Aktivismus bietet also keine Lösung für das Klimaproblem.

Ebenso lässt sich mit radikalen Mitteln nicht verhindern, dass die bestehende Ordung dauerhaft gesichert wird. Die Menschen flüchten weltweit vor dem Klimawandel und den wirtschaftlichen sowie politischen Verwerfungen, die er verursacht. Nach Angaben der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) waren allein im Jahr 2022 weltweit rund 108 Millionen Menschen auf der Flucht. Wer will die mit welchen Maßnahmen im Zaum halten?

Die Abschottung der EU-Außengrenzen wird vor diesem Hintergrund auf lange Sicht dem Druck nicht standhalten. Die EU-Außengrenzen untergliedern sich in circa 12.000 Kilometer Landgrenze und weitere 45.000 Kilometer Seegrenze. Allein im Jahr 2022 erreichten nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe 159.410 Flüchtlinge und Migranten die Küsten Europas. Der Rest findet andere Wege. „Rund ein Drittel aller Migranten weltweit lebt in Europa – gut jeder 10. Einwohner Europas ist außerhalb Europas geboren. Von 2000 bis 2015 lag der Wanderungssaldo bei plus 1,4 Mio. Menschen pro Jahr“, teilt die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Internetseite mit. Und das betrifft nur die Flüchtlinge, die es (a) tatsächlich nach Europa geschafft haben und (b) nach einem oft jahrelangen Aufnahmeverfahren dann auch bleiben dürfen. Die Anzahl „illegaler“ Menschen in Europa ist der lange Schatten der weltweiten Fluchtbewegung. Schon diese Zuwandung ist ein deutliches Indiz dafür, dass die bestehende Ordnung in den EU-Ländern langfristig nicht unverändert bleibt. Die Frage ist nur, ob den Zuwanderern politische Teilhabe gewährt wird oder ob sie sich diese politische Teilhabe erst erstreiten werden (müssen). Und das kann blutig werden, sehr gut gerade in Frankreich zu beobachten.

Damit ist klar, dass weder der radikale Aktivismus der Klimakleber und der Abschottungspopulisten noch die radikalen Klimaleugner auch nur annähernd eine Lösung für den Umgang mit dem Klimawandel bieten.

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma böte vielleicht die weitgehende Aufhebung der Nationalstaatlichkeit – zunächst innerhalb der Europäischen Union (EU). Dazu bedarf es einiger Änderungen in der aktuellen Politik in Sachen Klimaschutz und Flüchtlingsaufnahme.

Alle Maßnahmen zum Klimaschutz dürften nur noch im Rahmen einer gemeinsamen EU-Politik beschlossen werden. Die Nationalstaaten müssten hier ihre Entscheidungssouveränität vollständig aufgeben.

Alle EU-Flüchtlingslager außerhalb der Europäischen Union müssten geschlossen werden. Statt dessen sollten menschenwürdige Ankunftszentren für Flüchtlinge innerhalb (!) der EU-Grenzen geschaffen werden, die über breite und komfortable Sicherheitskorridore zu erreichen sind. Hier erfolgt keine Selektion nach Vermögen, Qualifikation oder Arbeitsmarkttauglichkeit. Es gelten allein rechtsstaatliche Kriterien der Extremismus- und Kriminalitätsbekämpfung sowie der Demokratiestärkung. Wer kein Extremist  und kein Krimineller ist, wer sich zur Demokratie und der Allgemeinen Menschenrechtscharta der UNO bekennt, der sollte in der EU uneingeschränkt willkommen sein und eine volle politische Teilhabe als Staatsbürger des von ihm frei gewählten EU-Staates bekommen. Inklusive eines vollständigen Familiennachzugs. Das alles ließe sich organisieren, wenn man den politischen Willen dazu hätte.

Solange jedoch lokal- und regionalpolitische Kleinkarriertheit sowie nationalstaatliche Egoismen die europäische Politik bestimmen, wird es weder einen wirksamen Klimaschutz noch langfristig eine stabile politische Ordnung geben. Die EU fällt gerade zurück in die rechtsautoritäre Nationalstaatlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts.

Heute bestimmen Menschen in der EU, die wegen ihres Alters keine Zukunft mehr brauchen, dass Menschen außerhalb Europas in der EU keine Zukunft haben dürfen. Das wird nicht ohne Folgen für die EU-Bürger bleiben.

Kontakt:
Heiko.Wruck@t-online.de



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