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Montag, 31. Juli 2023

Freundschaft nach dem Krieg

Die Ukraine und Russland verändern Europa
... von Heiko Wruck
AUFSATZ
Lassahn/gc. Wer hat damit gerechnet, dass Putin die Krim annektiert, die Ukraine überfällt, die ukrainische Armee der russischen Invasion standhält und der Westen die Ukraine so lange unterstützt? Werden wir vom Kriegsende auch so überrascht sein?

Vier mögliche Szenarien:
● Szenario 1: Die Ukraine bricht zusammen, weil sie keine Soldaten mehr hat. Der Ukraine wird militärisches Potenzial von rund 500.000 Menschen zugeordnet. Davon sind nicht alle kämpfende Soldaten. Für Russland wird das Potenzial mit mehr als 1.300.000 Menschen angegeben.

● Szenario 2: Die Ukraine gewinnt den Krieg (auf dem Verhandlungsweg). Das würde bedeuten, dass die russischen Truppen aus der Ukraine abzögen und alle Kriegshandlungen eingestellt werden. So erging es den USA in Vietnam, den Russen und der NATO in Afghanistan.

● Szenario 3: Der Krieg wird eingefroren. Im Nahen Osten (Israel/arabische Staaten), in Nord- und Südkorea, auf Zypern (Türkei/Griechenland), im Kosovo (Jugoslawienkriege) oder im China-Taiwan-Konflikt gibt es solche eingefrorenen Kriege seit vielen Jahrzehnten. Der Achtzigjährige Krieg (Niederlande - Spanien: 1568 - 1648) wurde mit einem 12-jährigen Waffenstillstand eingefroren. Ob der Nordirlandkonflikt wegen des Brexits eingefroren bleibt, wird man sehen.

● Szenario 4: Der Ukrainekonflikt entwickelt sich zu einem Abnutzungskrieg. Der kann viele Jahre oder Jahrzehnte dauern. Im I. Weltkrieg setzten die Parteien auf den Abnutzungskrieg durch Ressourcenerschöpfung und die Ermüdung des Gegners. Dasselbe Prinzip wurde von der Antike bis zur Moderne auf Belagerungen und sogenannte Materialschlachten angewandt. Viele Kriege sind von einer geschlossenen Kriegsökonomie gekennzeichnet. Das bedeutet, jeder kämpft, bis die  Ressourcen verbraucht sind. Die Kriegsparteien brennen aus. Im Ukrainekrieg ist dagegen eine offene Kriegsökonomie sichtbar. Dieser Krieg kann ewig dauern, weil immer neue Ressourcen von außen zugeführt werden. Seien es westliche Waffen, Munition, Para­militärs und Hilfsmittel für die Ukraine oder florierende Wirtschaftsverbindungen und Söldner seitens der BRICS-Staaten und Verbündeten mit Russland.

In jedem dieser vier möglichen Szenarien stellt sich die Frage: Wer ist Kriegspartei?

● Zu Szenario 1: Kann die Ukraine keine ausreichende Anzahl von Soldaten mobilisieren, werden ihr dann EU- oder NATO-Soldaten helfen? Oder werden es Paramilitärs sein, die sich in ukrainischen Freiwilligenverbänden organisieren? Der Spanische Bürgerkrieg kann hier als Vorbild betrachtet werden. Die Faschisten in Italien und Deutschland schickten Militärgüter, Waffen, Munition und Soldaten (Legion Condor). Die Sowjetunion rief die Internationalen Brigaden ins Leben, die von den europäischen Antifaschisten getragen wurden. Offizielle Kriegsparteien waren weder die Sowjetunion noch Deutschland oder Italien im Spanischen Bürgerkrieg.

● Zu Szenario 2: Keine Kriegspartei verhandelt alleine das Kriegsende. Auf beiden Seiten des Tisches sitzen auch die Verbündeten. Im Hintergrund wirken die Sympathisanten. Ohne ihre Zustimmung gibt es keine Lösung. Damit sind auch sie Kriegspartei.

● Zu Szenario 3: Der eingefrorene Krieg findet unmittelbar zwischen den Kontrahenten auf dem Schlachtfeld statt. Neben ihnen gibt es keine anderen Kriegsparteien mehr, auch wenn Dritte die Verhandlungen führen. Hier geht es um den Status quo vor Ort.

● Zu Szenario 4: In einem Abnutzungskrieg gibt es zahlreiche Kriegsparteien. Diese sind nicht nur die Kombattanten. Dazu gehören auch alle unterstützenden Staaten, wenn eine offene Kriegsökonomie vorliegt. Im Ukrainekrieg sind das heute die BRICS-Staaten und der Westen, die immer wieder neue Ressourcen einfließen lassen.

Wer schließlich Kriegspartei wird, entscheidet jeder Staat selbst. Das gilt für den Angegriffenen, den Angreifer und deren Unterstützer gleichermaßen.

Im Kalten Krieg gab es das Einvernehmen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, dass beide trotz militärischer Unterstützung einer Seite in einem Drittland nicht als Kriegspartei wahrgenommen wurden. Ein Beispiel ist die Präsenz sowjetischer Militärberater in Ägypten.  Am 30. Juli 1970 wurden fünf MIGs mit ägyptischen Kennzeichen, aber sowjetischen Piloten, abgeschossen (Krieg Ägypten/Israel: 1969 - 1970). Im Juli 1972 mussten circa 20.000 sowjetische Militärberater Ägypten verlassen. Ein anderes Beispiel war die Unterstützung der UNITA-Rebellen im angolanischen Bürgerkrieg durch die USA (1975 - 2002). Die Sowjetunion und später Russland hatte dort die MPLA unterstützt. Beide waren keine Kriegsparteien.

Welches dieser vier möglichen Szenarien eintrifft, ist ungewiss. Entscheidend wird die Geheim-Diplomatie sein. Sie zeigt sich in den immer wieder stattfindenden Gefangenenaustauschen, im Getreideausfuhrabkommen, in Waffenstillständen und Hilfsaktionen. Der Geheim-Diplomatie muss es gleichzeitig gelingen, die teils berechtigten Ängste der Ost-Europäer einzuhegen und ukrainische, russische sowie westliche Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Dafür ist eine neue europäische Sicherheitsarchitektur nötig. Ohne die Ukraine und Russland wird das nicht gelingen.

Dazu wird es eines ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrages bedürfen. Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj werden dann sicher keine Staatschefs mehr sein. Der Élysée-Vertrag, den der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle in Paris 18 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs unterschrieben, machte aus alten Feinden neue Freunde.

Nicht zuletzt hier liegt die Hoffnung auf ein Ende des verbrecherischen, von Russland begonnenen und vom Westen sowie von den BRICS-Staaten befeuerten Angriffskrieges auf die Ukraine.

Nach dem Krieg:
Egal welches Ende der Ukrainekrieg findet: Europa verändert sich durch ihn dramatisch!

Die EU könnte von aktuell 27 auf dann 39 Mitglieder auswuchern, weil Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Nord-Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro, die Kaukasusrepubliken, Serbien, Moldau, die Türkei und nicht zuletzt die Ukraine mit großer Wucht in die EU und unter den Schutz der NATO streben. Das wird teuer, denn um die Wirtschaftsleistungen, Haushalte und Bilanzen dieser Neumitglieder ist es nicht zum Besten bestellt. Sie müssten von den wenigen EU-Nettozahlern langfristig alimentiert werden – abgesehen vom Wiederaufbau der Ukraine. Das wird den Bevölkerungen in der dann 39-Staaten-EU nur äußerst schwer zu vermitteln sein. Wenn das überhaupt einer politisch wirtschaftlich und sozial überforderten Bevölkerung zu vermitteln ist.

Die Außengrenzen der EU 27 umfassen etwa 12.000 km Landgrenze und circa 45.000 km Seegrenze. Würde die EU 27 auf 39 Mitglieder anwachsen, vervielfachen sich diese Grenzlängen. Dasselbe gilt für den NATO-Schutz. Anders gesagt: Die EU-und NATO-Schutzgrenzen reichten von Finnland über die Baltischen Staaten und Ost-Europa bis an den Iran. Wer will und kann diesen Limes bauen und halten?

Das alles wirft zwingend Gegenreaktionen in der EU auf. Der rechte Block wird übermächtig. Aus einem Bündnis der (erstrebten) Freien und Gleichen wird ein hierarchischer Bund europäischer Nationen werden. Das stärkste Land strebt die Hegemonie an. Frankreich und Deutschland werden wieder Rivalen und Großbritannien.

Dass die EU eine entmilitarisierte Freihandelszone wird, ist unwahrscheinlich.

So steht die Europäische Union bereits heute an einem Scheideweg. Entweder setzen sich die Rechtsnationalen durch, die die EU abschaffen und an deren Stelle einen Bund der europäischen Nationalstaaten setzen wollen, der klar hegemonial orientiert ist. Oder es setzen sich die Kräfte durch, die die EU zentralisieren wollen und sie zu den Vereinigten Staaten von Europa hierarchisch umbilden werden.

Beide Wege bergen großes Konfliktpotenzial. Denn 39 Staaten mit ihren sehr verschiedenen kulturellen Identitäten, historischen Erfahrungen und Befindlichkeiten im Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa unter einem Hut halten zu wollen, scheint angesichts der innereuropäischen Konflikte und Begehrlichkeiten fast aussichtslos. Und der rechtsorientierte Bund der europäischen Nationalstaaten führt die Europäer zurück in die Zeiten des 19. und 20. Jahrhunderts mit allen nationalstaatlichen Rivalitäten.

Fazit:
Putin hat sich mit dem verbrecherischen Überfall auf die Ukraine zum nützlichen Idioten des Westens machen lassen. Schon heute hat er dadurch weniger Stabilität im eigenen Land zugelassen, die an seinen Rändern (Ukraine, Moldau, Armenien, Aserbaidschan, Georgien und in den Kaukasusrepubliken) immer neue Beben provoziert. Zusätzlich hat Putin die NATO im Nordosten (Schweden, Finnland) wie nie zuvor gestärkt.

Dem Westen wird jedoch sein Geschöpf auf die eigenen Füße fallen. Eine überhastete EU- und NATO-Ost-Erweiterung droht das überdehnte Gebilde sozial, politisch und wirtschaftlich zu sprengen. Einziger Profiteur dieser Entwicklung werden die USA sein. Schon jetzt kaufen die EU-Mitglieder dort teuere Energieträger ein, tragen das Kriegsrisiko im eigenen Lande und geraten durch wachsende Rivalitäten untereinander in immer stärkere Abhängigkeiten von Lieferanten- und Absatzstaaten wie den USA und den BRICS-Staaten. America first schwächt jedoch die Großmacht selbst auf europäischem Boden.■

Kontakt:
Heiko.Wruck@t-online.de
www.german-circle.de

Montag, 31. Juli 2023


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