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Sonntag, 20. August 2023

Pazifismus im Krieg

Widerstand muss nicht friedlich, kann aber gewaltfrei sein
... von Heiko Wruck
AUFSATZ
Lassahn/gc. Ist gewaltfreier Widerstand mit einem Messer am Hals möglich? Ja. 

● Die Suffragetten in Großbritannien erkämpften sich gewaltfrei das Wahlrecht. Der „Representation of the People Act“ von 1918 gewährte Frauen (30 +) das Wahlrecht in Großbritannien. Das volle Wahlrecht für Frauen (21 +) wurde 1928 verabschiedet.

● 1923 wurde im „Ruhrkampf“ mittels gewaltlos der Abtransport von Rohstoffen nach Frankreich zwar nicht völlig verhindert, aber gravierend behindert. Gewaltfrei verhindert wurde, dass Frankreich das Ruhrgebiet übernahm.

● Im II. Weltkrieg hatte sich in Norwegen der Lehrerverband gewaltfrei geweigert, die Nazi-Ideologie in die norwegischen Schulen zu tragen. Mit Erfolg.
 
● Auch die Dänen haben gegen die deutschen Faschisten gewaltfreien Widerstand erfolgreich praktiziert. Sie haben ihre jüdischen Mitbürger nicht an die Nazis ausgeliefert.

●  Zwischen dem 27. Februar und dem 6. März 1943 demonstrierten Frauen gegen die Verhaftung und Internierung ihrer jüdischen Ehepartner durch die Gestapo im Verwaltungsgebäude der jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße 2 - 4 in Berlin-Mitte. Die Gestapo gab die Männer schließlich frei. Die Frauen hatten sich über das seit 1933 geltende Demonstrationsverbot hinweg gesetzt und sich geweigert, den Anordnungen der Gestapo zu folgen.

● Die gewaltfreie Widerstandsbewegung, die von Mahatma Gandhi in Indien erfolgreich gegen die britischen Kolonialherren angeführt wurde, ist ein weiteres Beispiel. Indien wurde 1947 frei.

● Gewaltfreien Widerstand gab es auch in der DDR im Volksaufstand vom 17. Juni 1953. 
 
●Der Ungarische Volksaufstand entwickelte sich ab dem 23. Oktober 1956 aus einer friedlichen Studentendemonstration in Budapest, geriet zu einer Großdemonstration und schließlich zu einem landesweiten Aufstand. Dieser wurde am 4. November 1956 gewaltsam von sowjetischen Militärs niedergeschlagen.

● Im „Massaker von Paris“ waren über 30.000 (hauptsächlich) algerische Demonstranten am 17. Oktober 1961 aus den Vorstädten friedlich in die französische Hauptstadt gezogen. Sie demonstrierten gegen die nächtliche Ausgangssperre für französische Muslime, die ihnen wenige Tage zuvor auferlegt worden war. Dieser Protest endete in einem Gemetzel: Zahlreiche friedliche Algerier sind von Polizisten erschossen, erschlagen oder in der Seine ertränkt worden. Über zehntausend friedliche Demonstranten wurden tagelang inhaftiert.

● 1968 gab es in der ČSSR gewaltfreien Widerstand im Prager Frühling.

● 1989 hatten gewaltfreie Demonstranten die SED-Herrschaft in der DDR beendet.

● Selbst im derzeitigen Ukrainekrieg gibt es gewaltfreien Widerstand. Und nicht zu knapp. Am 26. März 2022 gingen die Bewohner der Stadt Slawutytsch auf eine friedliche Demonstration gegen die russischen Besatzer, die in der Stadt Kontrollstellen eingerichtet und den Bürgermeister Jurij Fomitschew entführt hatten. Am nächsten Tag hatte sich die russische Armee aus der Stadt zurückgezogen. Die Einwohner Slawutytschs hatten ihren Bürgermeister gewaltlos befreit.

In der Studie „Ukrainischer gewaltfreier ziviler Widerstand im Angesicht des Krieges“ des Friedensforschers Felip Daza Sierra werden allein für den Zeitraum Februar bis Juni 2022 insgesamt 235 Aktionen des gewaltfreien Widerstands genannt.

● Auch die deutschen Klimaaktivisten des Jahres 2023 reihen sich in die Tradition des gewaltfreien Widerstands gegen staatliche Politik ein. So wie die gewaltfreien Protestbewegungen gegen die Atomkraftwerke, gegen Atomendlager (40 Jahre Gorleben) oder gegen die nukleare Aufrüstung in den 1970-er und 1980-er Jahren in der Bundesrepublik.
Es könnten noch die gewaltfreien Arbeitskämpfe oder Demonstrationen für Frauenrechte, Gleichberechtigung und vieles mehr angeführt werden. Sie sind grundsätzlich gewaltfrei, aber keineswegs friedlich.

Der Bund für Soziale Verteidigung (BfSV) tritt dafür ein, Militär und Rüstung abzuschaffen sowie dafür, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Der BfSV ist nach eigener Darstellung ein „pazifistischer Fachverband der deutschen Friedensbewegung zur Entwicklung von Alternativen zu Militär und Gewalt.“

Mit dem gegenwärtig gern und häufig verunglimpfenden angeblichen „Unterwerferungspazifismus“ hat der BfSV nach eigenen Angaben nichts am Hut. „Seine Schwerpunkte sind Friedensbildung, die Entwicklung und Bekanntmachung von Konzepten der Zivilen Konfliktbearbeitung und des gewaltfreien Widerstands, die Unterstützung von Friedens- und Bürgerrechtsorganisationen international und die Mitarbeit in Kampagnen und Zusammenschlüssen der Friedensbewegung.“

Dass das nicht nur theoretisch möglich ist, belegt die Arbeit von Erica Chenoweth. Die Konfliktforscherin hatte über 600 Beispiele gewaltfreier und bewaffneter Aufstände von 1900 bis 2019 zusammengetragen und ausgewertet. Demnach wurden die meisten Konflikte nachhaltiger gelöst, wenn sie gewaltfrei waren. Je sozialer und gewaltloser die Aktivitäten waren, umso mehr Menschen konnten mobilisiert werden und umso länger hielt die Friedenswirkung an. In dieser Untersuchung war der überwiegende Teil der gewaltfreien Aktionen mit tödlicher Gewalt konfrontiert. Aber die Opferzahlen blieben deutlich geringer als bei allen gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Leider bleiben die pazifistischen Stimmen aktuell vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges fast ungehört. Bellizistische Politiker fordern im Verbund mit Militärs, Rüstungsunternehmen, Sofa-Strategen und Wochenendkriegern immer mehr und immer stärkere Waffen für die Ukraine. Den einst eingeschlagenen Weg der Wirtschaftssanktionen scheint heute kaum mehr zu favorisieren.

Dabei wäre gerade hier viel zu gewinnen. Bisher hat die Europäische Union elf Sanktionspakete gegen Russland und Belarus auf den Weg gebracht (Stand: 23. Juni 2023).
Davon abgesehen gehören heute offenbar der Aufrüstung die Zukunft und die Diplomatie aufs Abstellgleis.

Hier wird das Dilemma deutlich: Gewaltfrei mit dem Messer am Hals entkommt man dem potenziellen Mörder nicht. Aber wenn sich der Mörder mit einer Überzahl Verbündeter seines Opfers konfrontiert sieht, die ihn konsequent zur Verantwortung ziehen, kann ihn allein diese Situation von seinem Handeln abhalten.

Diese konsequente Mehrheit gibt es offenbar im derzeitigen Ukrainekrieg (noch) nicht. Umso wichtiger ist es, zivile gewaltlose Verweigerungen der behördlichen und unternehmerischen Zusammenarbeit mit Despoten, Aggressoren, Tyrannen, Diktatoren und Autokraten zu veranlassen oder wenigstens zu unterstützen. Die Verlässlichkeit von Politik und das Vertrauen in sie hängen davon ab, wie normativ ihr Handeln ist.

Doch hier hapert es gewaltig. Zum Beispiel war die Entscheidung, kein Gas wegen des Ukrainekrieges von Russland zu beziehen, durchaus richtig. Verlogen war es jedoch, das russische Gas mit Gas aus Katar zu kompensieren. Gemeinsam mit anderen Staaten führt auch Katar Krieg in Jemen. In Katar sind die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt. Frauenrechte und die Rechte queerer Menschen werden beeinträchtigt oder kaum gewährt. Homosexualität steht in Katar unter Strafe. Ebenso außerehelicher Sex. Bei diesem heuchlerischen Geschäft der deutschen Ampel-Regierung wurde lediglich der eine Verbrecher durch einen anderen, nicht minder widerlichen ersetzt.

Der Pazifismus der Nachkriegszeit hat dafür gesorgt, dass sich in der Bundesrepublik eine friedliche Demokratie entwickeln konnte. Diesem Pazifismus verdanken wir die deutsche Wiedervereinigung und die Gründung der Europäischen Union. Die Erkenntnis, dass es nicht klug ist, seine Kunden zu erschießen, hat die am längsten andauernde Friedensordnung in Europa zuwege gebracht, die es je gegeben hat. Deutschland hat sich bislang zweimal aus dem Pazifismus der Nachkriegsjahre verabschiedet: im Kosovo-Krieg als serbische Banditen ihre albanischen Nachbarn massakrierten; und auch in Afghanistan, um gegen die Taliban zu kämpfen. Bis heute sind beide Militäreinsätze Deutschlands umstritten. Beide deutschen Kriegseinsätze wurden von SPD und Grünen veranlasst.

Bleibt eine Frage: Ist eine Kriegsdienstverweigerung auch in Kriegszeiten legitim?
Es gibt ein internationales Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Auf Wikipadia ist nachzulesen: „1987 erkannte die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) das Recht zur Kriegsdienstverweigerung als allgemeines Menschenrecht an.“  In Deutschland gilt dafür der Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz. Demnach darf kein Bürger zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Auch nicht Soldaten.

Die Behauptung, in einem angegriffenen Land den Kriegsdienst zu verweigern, sei lediglich eine Unterstützung des Aggressors, greift zu kurz.

Pazifismus im Krieg bedeutet eine totale Verweigerungshaltung zu allem, was den Krieg befeuert. Sie kann sich manifestieren in der persönlichen Kriegsdienstverweigerung, in Demonstrationen, im zivilen Ungehorsam, in Kooperationsverweigerung, in Desertation oder in der Flucht ins Ausland, das die Flüchtlinge freundlich aufnimmt und versorgt.
Kontakt:
Heiko.Wruck@t-online.de
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