Kostanay/gc.
 Astana am Freitagabend, 14. Oktober 2011, 18 Uhr: Ich habe die 
Holzklasse erwischt. Wer in Russland oder Kasachstan Zug fährt, sollte 
sein Ticket etwas geplanter kaufen. Als ich am Hauptbahnhof in Astana 
stehe, scheint es, als habe ich Glück. Ich kann zwischen Coupe oder 
Platzkarte wählen, das sind zwei Zugklassen, in denen es sich gut 
aushalten lässt und jeder Passagier einen zugewiesen Platz bekommt.
Ich
 wähle Platzkarte, die Angestellte gibt meinen Namen ein, der auf jedem 
Ticket ausgewiesen sein muss. Er ist zusammen mit meinem Reisepass die 
Eintrittskarte für den Zug und somit zurück in meine neue Heimatstadt 
Kostanay, im Norden Kasachstans.
Während in Deutschland das 
Ticket zum Abfahrtszeitpunkt teurer wird, so ist es hier andersherum. 
Mut oder Leichtsinn, das Ticket nicht vorher zu kaufen, wird hier mit 
einem Spätbucherrabatt belohnt.

Innerlich
 mache ich Luftsprünge, geht mein Zug doch schon in 10 Minuten. Doch in 
dem Moment, indem die Angestellte meinen Nachnamen eintippt, blockiert 
das System. Es gibt nur noch Obschij-Wagon für den letzten Zug um 18 
Uhr, also zwei Stunden später. Ich wünschte, ich wäre eine Petrowa oder 
Kusnezowa oder hätte einen anderen Pass, auf dem in kyrillischen 
Buchstaben alles vermerkt wäre. So kaufe ich das Ticket für umgerechnet 5
 Euro und stelle mich innerlich auf die 650 schlaflosesten Kilometer 
meines Lebens ein. Wer Obschij-Wagon „fährt“, muss sich seinen Sitzplatz
 erkämpfen. Mit meinem Rucksack habe ich schlechte Karten, schnell in 
den Zug zu kommen. Beim Einsteigen wird ein Russe auf mich und meinen 
Rucksack aufmerksam. Er ist es auch, der mir später hilft, diesen oben 
auf die Ablage zu wuchten. Wir sitzen an der Seite des Ganges, ich in 
der Mitte, besagter Mann, an meiner rechten Seite. Er ist Raucher, das 
ist nicht schwer zu erraten. Sein Geruch an kaltem Tabakrauch vermischt
 sich dem der Kohle, der durch das offene Wagonfenster hereinweht. 
Rechts von mir sitzt eine junge Frau, die leise in ihr Taschentuch 
schnieft. Sie ist verschnupft. Wo in einem Platzkartenabteil 
normalerweise vier Leute liegen (zweioben, zwei unten), sitzen im 
Obschij-Abteil sieben.
Auf der linken Seite hinten am Fenster 
sitzt eine Frau. Sie trägt einen blauen Kittel mit Blumenmuster, 
Hausschuhe mit Karomuster und knabbert Sonnenblumenkerne, deren Reste 
sich vor ihr auf dem ausgerollten Zeitungspapier türmen. Krause, rot 
gefärbte Haare stehen in alle Richtungen ab. Ihr Mund steht offen, Zähne
 sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Sie atmet schwer. Von 
einem jungen Mädchen gegenüber lässt sie sich eine Spritze setzen.

Mein
 vom Rauchen zurückgekehrter Sitznachbar macht Sudoku, nebenbei 
verspeist er einen goldgelben, in fett ausgebackenen Teigtaler, der 
aussieht wie ein riesiges Ufo. Links spielen junge Männer und Frauen 
Karten. Rechts sitzen die Männer unter sich. Unter dem Pullover eines 
Mannes quillt die nackte, speckige Rückenansicht hervor. Von oben 
vernehme ich das Schnarchen einer Frau, am Ende des Waggons schreit ein 
Kind. Auf den anderen Plätzen breitet eine große Runde diverse 
Teigtaschen aus. Es riecht deftig. Die Männer, in deren Gesichter sich 
tiefe Falten gegraben haben, tragen grau-schwarze Pullover, die entweder
 an ihren dünnen Körpern schlabbern oder sich Dinge abzeichnen lassen, 
die Frau nicht einmal erahnen will.

Im
 Gang herrscht reger Publikumsverkehr. Die Raucher zieht es ständig ans 
Waggonende. Eine alte Dame schneidet eine Scheibe Salami ab, während ihr
 Mann die Gardinenstange vom Fenster holt. Rechts von mir verschüttet 
die Frau Sonnenblumenkerne auf dem Fußboden. In der Herrenrunde wird 
eine weitere Flasche Wodka geöffnet. Die Herumsitzenden wachen über den 
Prozess. Einer der Männer verspeist ein gepultes Ei; mit Sorgfalt 
bestreut er es mit Salz, die Reste rieseln auf den Fußboden. Langsam 
verdunkelt sich der Himmel, das schummrige Licht lässt mich müde werden.
Zu
 fortgeschrittener Nachtstunde starren junge Männer auf ihre 
Mobiltelefone. Sie haben keine Hemmungen, ihre Nachbarn an ihrem 
schlechten Musikgeschmack teilhaben zu lassen.
Wenn der Zug hält 
und die Passagiere wechseln, werden hunderte Plastiktüten und kleinere 
Taschen durch die Gänge getragen, aber auch Größeres wie Fernseher oder 
Computer.
Nachdem ich mich auf dem frei gewordenen Platz rechts 
sitzen kann, setzt sich ein junges Mädchen mit Vogelnestfrisur  zwischen
 mich und meinen Helfer. Berührungsängste hat sie offenbar keine. Unsere
 Pohälften drücken sich aneinander. Um kurz nach ein Uhr ist das 
Vogelnest einem Pferdeschwanz gewichen, der von einem Haargummi XXL mit 
Blumenblüte und doppelter Schleife gehalten wird. Das weiß-hellblaue 
Ensemble wird durch diverse Strassapplikationen untersetzt. Auch unsere 
Körper berühren sich, unsere Oberschenkel liegen eng aneinander. Doch 
sie würdigt mich keines Blickes, und haut mir lieber bei jeder Drehung 
ihre Haare ins Gesicht.
Nach einem längeren Halt sitzen wir nun 
zu viert. Der neue Mann links neben mir sieht aus wie ein asiatischer 
Elvis. Im Gang stehen etliche Passagiere ohne Sitzgelegenheit.
Mittlerweile
 ist es 3.30 Uhr und ich fühle mich wie das Vieh vor der Schlachtung. Es
 riecht, sofern ich es stark übermüdet wahrnehmen kann, nach einer 
Mischung aus Schweißfuß und kaltem Rauch. Ein Schweizer Kräuterbonbon 
gibt mir Kraft. Ich beginne, die Wodka-Trinker nebenan zu beneiden, 
besonders den Dicken mit dem zu kurzen Pulli, der schon lange glücklich 
schnarcht.
Bei nächsten Halt lässt sich ein Polizist blicken. Die
 Wodkarunde grüßt er freundlich. Ich habe noch unendliche 6 Stunden 
Fahrt vor mir. In den letzten 10 Stunden war ich nicht auf der Toilette.
 Alle, die aus dieser Richtung kamen, es war eine Menge, rochen 
ausnahmslos so, als hätten sie Waschbecken und WC verwechselt. Endlich, 
es ist Samstagmorgen, 15. Oktober 2011, 10 Uhr: Ankunft in Kostanay.
Meine
 Zugbekanntschaft hilft mir beim Aussteigen. Wir verabschieden uns, 
machen uns noch kurz miteinander bekannt: Constanze. Victor ...
In
 meiner mir noch fremden Wohnung, in der ich selbst erst zwei Nächte 
verbracht habe, hocke ich auf der Couch und spüre noch immer das Rattern
 des Zuges. Mir ist schwindlig. Über mir läuft eine Renovierung, 
woanders höre ich das Wasser von oben durch die Leitung schießen. 16 
Stunden Zugfahrt – ich bin angekommen, endlich.