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Samstag, 8. März 2014

Schlagende Verbindungen

Häusliche Gewalt ist keine Privatsache
von Heiko Wruck
BERICHT
Schwerin/gc. Die Frau kann die nette Nachbarin sein: Kollegin, Geschäftsfrau, Polizistengattin, Pfarrersfrau, Politikerin, Sekretärin, Hausfrau ... Rund 25 Prozent der Frauen in Deutschland sind laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums von häuslicher Gewalt betroffen. Jedes Jahr fliehen etwa 45.000 mit ihren Kindern in ein Frauenhaus. In Mecklenburg-Vorpommern suchen über 3.000 pro Jahr Schutz und Hilfe. 2013 wurden 324 Frauen mit 277 Kindern in Frauenhäusern stationär untergebracht. In der Öffentlichkeit bleiben sie unsichtbar.


Wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand, gab’s zuerst nur Streit. Dann schmeckte es nicht. „Zu doof zum Kochen!“ Als sie Wirtschaftsgeld verlangte, setzte es eine Ohrfeige. Dann waren mal die Kinder zu laut, der Stress auf der Arbeit zu groß, das Hemd nicht gebügelt oder sie wollte keinen Sex ... plötzlich setzte es Schläge. Anfangs vereinzelt, dann öfter und schließlich fast immer. Die Liste der Banalitäten ist endlos, aber die Kette der Misshandlungen, die heimlich im Schutz der Familie stattfinden, reißt nicht ab. Häusliche Gewalt trifft meistens Frauen und Kinder. Sie findet im Verborgenen statt.

Ehe sich Frauen Hilfe besorgen, erdulden sie oft viele Jahre lang seelische und körperliche Grausamkeiten. „Anfangs waren es kleine Sticheleien, weil ich ihm plötzlich zu dick war und keine Arbeit hatte. Dann hatte er mir Treffen mit Freunden, Besuche und Telefonate verboten. Einkaufen durfte ich nur noch, wenn er dabei war. Eigenes Geld hatte ich nicht. Wohin sollte ich gehen? Meine Mutter hielt zu ihm. Seine Mutter auch. Die Wohnung lief auf seinen Namen. Ihm gehörte das Auto. Er wollte mir die Kinder wegnehmen, würde ich ihn verlassen. Ich konnte nichts machen und war zu nichts zu gebrauchen“, beschreibt eine Mittzwanzigerin in einem Frauenhaus in Westmecklenburg ihre Situation. Fünf Jahre in zwei gewalttätigen Beziehungen hatte die zweimal Verheiratete ausgehalten, ehe sie eines Abends spontan zu ihrer Freundin flüchtete. „Ich nahm heimlich das Kind und den Autoschlüssel, dann haute ich ab.“ Anderentags ging sie ins Frauenhaus.

„Durchschnittlich 7 Jahre leben Frauen in Gewaltbeziehungen“, sagt Ursula Dippold, Leiterin des AWO-Frauenhauses Ludwigslust. Unkenntnis über ihre rechtliche Situation und krankhafte Vorstellungen beider Geschlechter von Ehe, Eigentum und Rollenverhalten sind bei 93 Prozent der Fallzahlen Ursachen dafür, dass die Frauen in Gewaltbeziehungen hineinwachsen. „Zirka 70 Prozent beginnen eine Beziehung, in der es zuerst keine Gewalt gibt. Aber das schleichende Gift der Dominanz führt sie unmerklich in eine immer tiefer greifende Abhängigkeit“, erklärt Ursula Dippold.

Wenn Frauen sich dem Zugriff ihrer gewalttätigen Männer entziehen wollen, geschieht dies meist spontan. Sie rufen die Polizei. Die hat jedoch oft das Problem, dass es zu keiner sichtbaren Gewalt gekommen ist und sich die Situation anscheinend wieder beruhigt hat oder die Gefahr angeblich überbewertet wurde. Dann rücken die Beamten unverrichteter Dinge ab. „Es ist wichtig, dass die Frauen sich im Vorfeld Hilfe holen“, sagt Ursula Dippold. Die Jugendämter in den Landkreisen können helfen und wenn es zu sichtbaren Gewalthandlungen gekommen ist, der Polizeinotruf 110. Die Frauen können sich ebenfalls über die bundesweite Notfallrufnummer 0800-011 60 16 Hilfe holen.

Auch Verwandte, Freunde, Kollegen und andere Vertrauenspersonen sind moralisch verpflichtet, Gewalt in der Familie zu begegnen, denn sie ist nie Privatangelegenheit, und die Opfer trifft nie die Schuld.

„Eines der größten Hemmnisse, sich bereits im Vorfeld Hilfe zu holen, ist die rechtliche Unkenntnis der Opfer“, sagt Ursula Dippold. Selbst wenn die Frau kein eigenes Konto hat, Firma, Haus und Auto auf dem Papier dem Mann gehören, sie werden nicht obdachlos und auch nicht mittellos. Der Satz „Du wirst alles verlieren und die Kinder auch“ ist eine der häufigsten Drohkulissen der Täter, die ihr Tun verstecken wollen. Diese Drohung bleibt jedoch nur Kulisse. Gewalttäter können  für längere Zeit gemeinsamen der Wohnung verwiesen werden, auch materiell ist nicht das letzte Wort gesprochen. Den ersten Schritt müssen die Frauen jedoch selbst tun.

Bildunterschrift:
Selten sind die Spuren häuslicher Gewalt so offensichtlich zu sehen, wie auf diesem Foto. Misshandelte Frauen verstecken ihre Blessuren unter den Haaren, der Kleinung, Brillen oder Modeaccessiores. Selten sieht man ihnen die Qual an. Sie wirken oft souverän, glücklich und sind freundlich. Die Schwerinerin Anne Perlitz (26) hatte sich eigens für diesen Artikel im Mecklenburischen Staatstheater Schwerin als Gewaltopfer schminken lassen. Vielen Dank dafür! Foto: Heiko Wruck

Kontakt:
Heiko.Wruck@t-online.de
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