von Heiko Wruck
KOLUMNE
Dieser Tage wird wieder viel über Nachhaltigkeit schwadroniert. Das passt ganz gut zu Weihnachten und bietet, wie das Christenfest auch, eine sentimentale Erlösungshoffnung. Kaufe vor Ort, lautet die Forderung, dann stärkst du Familien, sicherst Arbeitsplätze, schonst die Umwelt und verbrauchst weniger Ressourcen. So kann jeder Konsumbürger zum Heiland einer besseren Welt werden.
Ich sehe noch meine Mutter Ende der 1960-er bis weit in die 1970-er Jahre die Einkäufe erledigen. Sie lief von Laden zu Laden, von Geschäft zu Geschäft. Bei jedem Weg wurden ihre Netze praller und schwerer. Als ich alt genug war, musste ich oft mit: tragen helfen. Als die Kaufhallen kamen, war das eine riesige Erleichterung für meine Mutter. Die kleinen Ladenbesitzer warnten aber auch schon damals vor dem allgemeinen Niedergang der Wirtschaft und dem Verschwinden aller kururellen Errungenschaften. Mit den Versandhauskatalogen kündigte sich früh die heutige elektronische Wirklichkeit des Internets an. Auch an den gleichermaßen gehassten wie geliebten Katalogen sollte die Nation nicht, wie befürchtet und prophezeiht, zugrunde gehen. Sie wird auch nicht an den modernen Bestellmethoden des Internets zerbrechen. Denn wer will, der kann jederzeit schwer bepackt die alten Wege gehen.
Familien stärken und Arbeitsplätze sichern – das liest sich schön, stimmt aber im Detail nicht. Die großen Unternehmen und die kleineren Firmen in ihrer Perepherie beschäftigen ein Mehrfaches an Mitarbeitern als alle kleinen Ladengeschäfte zusammen. Wenn schon Arbeitsplätze gesichert werden sollen, dann doch viele an großen Standorten und nicht wenige in kleinen Nebenlagen. Die Familien werden auch nicht gerade gestärkt, wenn die Eltern öfter und mehr Wege für den ganz profanen Einkauf erledigen müssen. Die damit verbrauchte Zeit entziehen sie ihren Partnern, den Kindern, der Familie. Könnte man immer alles – bis zum letzten Wattestäbchen – zeitunabhängig bestellen und sich liefern lassen, bräuchte man nicht mehr so schwer zu schleppen und keine weiten Wege zu bewältigen. Man wäre mehr daheim bei seinen Lieben und weniger gestresst. Von mühsamen Preisvergleichen vor Ort ganz abgesehen.
Mit dem Ressourcenverbrauch sieht es nicht besser aus. Kleine Läden fressen mehr. Sie verbrauchen mehr Fläche und auf den Quadratmeter mehr Energie. Es müssen mehr Wege für sie hergestellt und unterhalten werden. Sie brauchen Parkplätze und Ladezonen, die in den Innenstädten bereitgestellt werden müssen. Läden brauchen eigene Strom und Wasserversorgungen. All das brauchen zwar auch große Einkaufszentren, aber eben nur an einem Ort und nicht dezentral in der halben Stadt.
Noch in den 1950-er bis in die 1970-er Jahre hinein wurde beispielsweise Gemüse auch in großen Mengen in Deutschland angebaut. Ganze Fabriken gab es, die die Ernten in Dosen füllten. Kleine, aber unendlich viele, Fahrzeugkolonnen waren allein damit beschäftigt, das Dosengemüse in die Region zu fahren. Dann liefen oder fuhren die Verbraucher ihrerseits los, um das Dosengemüse wieder einzusammeln. Pflückfrisches Gemüse gab es meistens nur auf den Wochenmärkten. Irgendwann wollten jedoch die Verbraucher keinen Büchsenfraß mehr. Das Gemüse sollte immer frisch sein – jeden Tag. Also wurde es eingefroren. Doch Tiefkühlkost klingt jetzt auch nicht so lecker und wird heute meist nur noch als Tk abgewertet. Fernsehköche und Restaurantgäste bekommen regelmäßig stumpfe Zähne beim Einsatz von Tk-Gemüse. Nach möglichst pflückfrischem Bio-Gemüse, optisch absolut makellos und mit Alibidreck behaftet, steht heute den Verbrauchern der Sinn. Und zwar täglich sowie ganzjährig. Das geht nur noch mit Gemüseimporten aus Weltregionen, in denen zwei bis drei Ernten pro Jahr im großen Stil möglich sind. Doch werden auch die nicht frischer, wenn sie erst in der Fläche breitgefahren werden, weil jeder kleine Gemüseladen angesteuert werden muss. Also fiel die Gemüseerzeugung aus ökonomischen Gründen in Deutschland fast vollständig weg. Was auch nicht so schlecht ist, wenn man bedenkt, dass damit auch weniger Landfraß und weniger Düngemitteleinsatz hierzulande einher gehen. Statt dessen wird das Gemüse taufrisch in wenigen Stunden über den halben Globus fast direkt ins Supermarktregal geschickt – und dort, sauber abgepackt, auch gern gekauft.
Entscheidend ist die letzte Meile. Wer zum Beispiel darüber nachdenkt, eine Milliarde Frühstücksbrötchen herstellen und verteilen zu müssen, der kommt schnell auf die Idee, den Transport mit möglichst großen Einheiten und möglichst wenigen Endpunkten zu bewältigen. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einmal eine Millionen verzehrfertige Brötchen einkauft und in einem Supermarkt anbietet oder tausend Brötchen pro kleinem Bäckerladen erst noch herstellen soll. Für die klischeebehafteten Bäckerbrötchen muss dann vom Verbraucher immer auch ein Extraweg eingeplant und bewältigt werden, weil es beim Bäcker eben nur Backwaren, aber nichts anderes gibt. Ob die oft aus den industriell gefertigen Einheits-Teigrohlingen gebackenen Bäckerbrötchen dann auch ihr romantisches Versprechen erfüllen, darf bezweifelt werden.
Wer also immer wieder neu die Forderung aufmacht, in den kleinen Läden in der Innenstadt zu kaufen, erstrebt eine Welt, die es aus guten Gründen nicht mehr gibt. So wie auch Pferdekutschen aus dem Straßenverkehr verschwunden sind, so werden auch die kleinen Läden verschwinden. Doch wegen der fehlenden Pferdekutschen ist der Straßenverkehr nicht zum Erliegen gekommen. Die kleinen Läden werden sich verändern. Sie werden individueller und serviceorientierter werden, oder untergehen. Denn jede Massenware lässt sich besser über große Zentren in großen Stückzahlen verkaufen. Die Chance der Kleinen liegt im Besonderen, das es in großen Chargen nicht gibt.
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