Suchen

Samstag, 11. April 2020

Alle fahren auf Sicht

Coronakrise belastet Pflegeeinrichtungen besonders
von Heiko Wruck
INTERVIEW
Schwerin/gc. Menschen in der Pflege sind in der Coronakrise besonders großen Belastungen und hohen Risiken ausgesetzt. Branchenkenner Jürgen Rathje erklärt im Gespräch die Dimension dieser Krise für die Pflegeeinrichtungen in Deutschland.


Sind die Pflegeheime aktuell mit Corona überfordert?
Nein, sie sind noch nicht überfordert. Allerdings arbeiten die Beschäftigten hart am Limit. Eine Überforderung entsteht erst, wenn die Kapazitäten nicht mehr ausreichen, um das Nötigste zu gewährleisten. Ob und wann dieser Zeitpunkt eintritt, kann ich nicht sagen. Klar ist nur, dass wir jetzt schon in einer Ausnahmesituation leben und gerade lernen, wie wir mit solchen Herausforderungen umgehen müssen.

Hat die Politik in Bund und Land alles richtig gemacht?
Im Großen und Ganzen schon. Man kann immer anderer Meinung sein. Aber die, die keine politische Verantwortung tragen, schreien immer am lautesten und tragen nie irgendetwas zur Lösung bei. Alle Politiker im Bund, im Land und in den Kommunen fahren auf Sicht. Das ist auch vernünftig, weil niemand weiß, was kommt. Nur die Volltrottel brettern durch den Nebel. Und wir wissen heute immer noch nicht, wie lange die Krise dauern wird. Reden wir über eine Zeit bis Ostern, was unwahrscheinlich ist. Reden wir über eine Entspannung ab Mitte Mai? Oder geht es weit in den Sommer? Niemand kann sagen, wie lange es dauert.

Was macht die Situation in der Pflege so besonders?
In den Pflegeeinrichtungen sind die Bewohner allesamt Angehörige der Risikogruppe Nummer eins: alt, schwach und krank. Sonst wären sie ja auch nicht dort. Sie sind aber nicht nur virologisch bedroht, sondern auch psychisch. Freunde, Angehörige und Bekannte erhalten keinen Zutritt zu den Einrichtungen. Raus sollten die Bewohner auch nicht. Und mit dem Internet und seinen vielen Unterhaltungs- und seinen Ablenkungsmöglichkeiten können die meisten Bewohner auch nichts anfangen. So hocken immer nur dieselben Personen aufeinander: Bewohner, Pfleger, Therapeuten, Hauswirtschaft. Das war’s. Krankheiten wie Alzheimer und Demenz verschärfen die Situation. Selbst Neuaufnahmen sind jetzt eine höchst heikle Angelegenheit. Das ist in Krankenhäusern übrigens ähnlich. Dort kommen noch Unfälle und „normale“ Krankheiten dazu.

Wie kann man sich in Pflegeeinrichtungen ablenken?
Unter den Bedingungen von umfangreichen Ausgangs- und Besuchssperren ist das natürlich sehr schwierig. Gymnastikübungen, einzeln und in der Gruppe, sind eine Möglichkeit. Aber auch hausinterne Veranstaltungen im kleinen Rahmen wie Tanz-, Musik- und Gesangsrunden, Leseveranstaltungen, gemeinsames Kochen oder ein Nachrichtenclub, der sich nicht nur mit Corona befasst, könnten die Eintönigkeit des Alltags durchbrechen. Spielenachmittage, Rätseltreffen und Malkurse, die in kleinen Ausstellungen münden, könnten hier  Abwechslung bringen. Wichtig dabei bleibt aber, Abstand zu halten, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. Wenn Bewohner bereits Symptome einer Coronaerkrankung zeigen, fallen leider alle gesellschaftlichen Kontakte weg. Das ist sehr schwer.

Bildunterschrift:
Jürgen Rathje: Angehörige, Freunde und Kinder könnten handgeschriebene Briefe, Fotos oder gemalte Bilder an ihre Pflegeheimbewohner schicken und so Kontakt halten. Foto: Heiko Wruck

Kontakt:
Heiko.Wruck
__________________________________________