Dual-Use-Verordnung und Menschenrechtsschutz
Redaktion: Reporter ohne Grenzen
PRESSEMITTEILUNG
Berlin/gc. Reporter ohne Grenzen (RSF), Amnesty International, Human Rights Watch und weitere Menschenrechtsorganisationen rufen die Europäische Kommission auf, bei der stockenden Reform der EU-Exportkontrollen für Überwachungstechnologie auf einem strikten Menschenrechtsschutz zu bestehen.
In einem offenen Brief an Handelskommissar Phil Hogan warnen die Organisationen davor, die Position der Kommission in den Verhandlungen über eine neue Dual-Use-Verordnung zugunsten von Industrieinteressen aufzuweichen. Sie reagieren damit auf einen vom Magazin Politico veröffentlichten Kompromissvorschlag, in dem die Kommission zahlreiche Abstriche von ihrer ursprünglich ambitionierten Position macht.
„Die EU-Kommission muss sich bei der Reform der Dual-Use-Verordnung für einen wirksamen Menschenrechtsschutz starkmachen und auf Verpflichtungen wie menschenrechtlichen Folgenabschätzungen für Überwachungsexporte bestehen“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Der aktuelle Kompromissvorschlag ist ein enttäuschender Rückschritt gegenüber dem fortschrittlichen Entwurf, mit dem die Kommission in die Verhandlungen gegangen ist. Wird er verabschiedet, könnten Unternehmen aus der EU auch künftig Regime beliefern, die digitale Überwachungstechnologie missbrauchen, um Journalistinnen, Journalisten und andere kritische Stimmen zu verfolgen.“
In dem Brief verweisen die Organisationen auf zahlreiche Belege, dass digitale Überwachungstechnologie aus der Europäischen Union ungeachtet der bestehenden Exportkontrollregeln weiterhin an repressive Regime weltweit exportiert wird. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssten deshalb endlich ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und die längst überfällige Reform ihrer Exportkontrollbestimmungen vorantreiben. Zugleich erinnern die Unterzeichner an Zusagen der EU, den Unternehmen größere menschenrechtliche Sorgfaltspflichten aufzuerlegen.
Nötig sind aus Sicht von RSF und den anderen Unterzeichnern angemessene Menschenrechtsstandards, verpflichtende menschenrechtliche Folgenabschätzungen im Rahmen der Due-Diligence-Prozesse von Unternehmen sowie ein praktikabler Mechanismus, um die EU-Kontrollliste der betroffenen Güter um neue Arten von Überwachungstechnologie zu ergänzen. Die Mitgliedsstaaten müssen auf Transparenz- und Offenlegungskriterien für ihre Exportlizenzen verpflichtet werden sowie dazu, im Falle erheblicher Missbrauchsrisiken Exportlizenzen zu verweigern.
Nach coronabedingter Pause könnten diesen Monat erstmals wieder die sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Kommission, Europäischem Parlament und Mitgliedsstaaten über die Reform stattfinden. Eine rasche Einigung ist nicht in Sicht. Reporter ohne Grenzen appelliert an die Bundesregierung, sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte für die zügige Verabschiedung einer reformierten Dual-Use-Verordnung einzusetzen, die menschenrechtliche Prinzipien und den Schutz journalistischer Arbeit achtet.
Reformverhandlungen seit 2016
Überwachungstechnologie wie zum Beispiel Spähsoftware, Datenzentren zur Vorratsdatenspeicherung oder Ausrüstung für die Überwachung von Demonstrationen zählen zu sogenannten Dual-Use-Gütern. Das sind Produkte, die sowohl für zivile als auch militärische Vorhaben genutzt werden können. 2015 wurde Überwachungstechnologie erstmals ebenso wie konventionelle Rüstungsgüter in die Dual-Use-Verordnung der EU aufgenommen, um ihre Ausfuhr in Drittstaaten zu kontrollieren.
Doch Unternehmen haben bis heute Schlupflöcher, um mit autokratischen Regimen zu handeln. Deshalb legte die EU-Kommission im September 2016 einen Reformvorschlag vor, der neue Bedrohungen im Zusammenhang mit digitaler Überwachungstechnologie besser erfassen und Menschenrechte als Teil der allgemeinen Ausrichtung auf einen verantwortungsvolleren und wertebasierten Handel berücksichtigen soll.
Das EU-Parlament stellte sich weitgehend hinter den Kommissionsentwurf, der Reformprozess kam dann aber in den Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten ins Stocken. Nach fast eineinhalbjährigen Verhandlungen einigten sich die Mitgliedsstaaten im Juni 2019 auf eine Position, die Menschenrechtsschützer auf ganzer Linie enttäuschte; Zentrale Passagen wurden gestrichen, die Definition von Überwachungstechnologie verwässert. Forderungen nach staatlicher Transparenz und nach Sorgfaltspflichten für die Unternehmen wurden fallengelassen.
Europäische Technologie in autoritären Staaten
Reporter ohne Grenzen setzt sich seit 2012 für eine wirksame Regulierung von Überwachungsexporten ein. Schon 2014 forderte der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ein EU-weites Verbot solcher Exporte in autoritäre Staaten. Deutsche und europäische Spähsoftware war während des arabischen Frühlings gegen Medienschaffende, Aktivistinnen und Aktivisten eingesetzt worden. Seitdem hat sich wenig geändert: Die deutsche Spähsoftware FinSpy wurde laut Kaspersky Lab in mindestens 20 Staaten eingesetzt, darunter die Türkei und Myanmar. Die Nichtregierungsorganisation Access Now berichtete 2018 über den Einsatz finnischer Technologie in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Mexiko. Im März wies RSF in seiner diesjährigen Liste der Feinde des Internets unter anderem auf Exporte der spanischen Firma Mollitiam Industries an die kolumbianische Armee hin, deren umfassende Überwachung von Dutzenden Journalistinnen und Journalisten erst kürzlich bekannt wurde.
Angesichts dieses intransparenten und mangelhaft regulierten globalen Marktes forderte der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, David Kaye, in seinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat im Juni 2019 einen umgehenden Stopp aller Verkäufe und Exporte von Überwachungstechnologie, bis sich Regierungen und Unternehmen auf ein Kontrollregime mit angemessenen Menschenrechtsstandards geeinigt haben.
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