Beifall bis der Arzt kommt
von Jürgen Rathje
KOLUMNE
Wenn in der Altenpflegebranche die Stelle einer examinierten Pflegefachkraft frei wird, dann kann diese Stelle erst nach 205 Tagen neu besetzt werden. Das ist bis heute der Bundesdurchschnitt.
Es ist kein Wunder, dass man so lange suchen muss, um neue Altenpfleger zu finden. Wir haben einfach zu viel und zu lange geklatscht im vorigen Jahr. Bei so viel Applaus hält keine Pflegefachkraft die luxuriösen Arbeitsbedingungen lange aus und verzieht sich klammheimlich in ein unbekanntes Tropenparadies, um dort ein kleines Quäntchen echten Urlaubsstress zu tanken. Pure Exotik. Oh mein Gott, was haben wir geklatscht als all die Pflegerinnen und Pfleger noch total systemrelevant waren. Beifall bis der Arzt kommt.
Doppel- und 12-Stundenschichten sowie Unterbezahlung und Teilzeitjobs verhindern, dass der Rest auch noch in den Sack haut. Es erstaunt mich überhaupt nicht, dass Deutschland seit vielen Jahren besonders in der Pflegebranche einen Fachkräftemangel zu bewältigen hat. Im 10-Jahres-Vergleich hat sich die Zahl der gemeldeten Stellen für Pflegekräfte fast verdoppelt. In der Altenpflege liegt der Anstieg dabei mit einem Plus von 110 Prozent deutlich über dem in der Krankenpflege mit rund 69 Prozent.
Sowohl in der Alten- als auch in der Krankenpflege richtet sich die deutliche Mehrheit der Stellenangebote an examinierte Pflegefachkräfte. Das sind in der Altenpflege 64 Prozent und in der Krankenpflege satte 76 Prozent. Gleichzeitig verfügen aber nur 10 Prozent der Arbeitslosen in der Alten- und 44 Prozent in der Krankenpflege über eine Qualifikation als Pflegefachkraft. Hinzu kommt: Knapp drei von vier arbeitslosen Pflegekräften suchen eine Vollzeitstelle. Dem gegenüber ist nur jede sechste gemeldete Arbeitsstelle in der Alten- und gut jede dritte Stelle in der Krankenpflege als reine Vollzeitstelle ausgeschrieben.
Das muss ganz klar am deutlich reduzierten Applaus für die offenbar nicht mehr ganz so systemrelevanten Pflegekräfte liegen. Sonst würde man ihnen ja ausreichend viele Vollzeitstellen anbieten. Es liegt also glasklar auf der Hand: Wir müssen jetzt endlich deutlich mehr Claqueure beschäftigen, um das reduzierte Beifallvolumen wieder auf ein akzeptables Niveau anzuheben. Sicher ist, Claqueure sind systemrelevanter als ein paar Pflegefachkräfte.
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