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Freitag, 5. Mai 2017

Zerfall oder weiter wie gewohnt?

Fünf Zukunftsszenarien für die EU
Redakton: ISI
PRESSEMITTEILUNG
Karlsruhe/gc.  Der Erfolg der rechtsextremen und antieuropäischen Kandidatin Marine Le Pen beim ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl hat gezeigt, welchen Zuspruch populistische Parteien in Europa mittlerweile bekommen. Von der Stichwahl in zwei Wochen geht deshalb ein besonders starkes Signal für die Zukunft der Europäischen Union aus. Doch wie könnte diese Zukunft aussehen? Mit dieser Frage befasst sich die jetzt veröffentlichte Studie „EU break-up?“ des Fraunhofer ISI, die sechs potenzielle Entwicklungen zur EU-Zukunft vorstellt.

Nach der Brexit-Entscheidung der Briten steht mit der Präsidentschaftswahl in Frankreich ein weiteres wichtiges Ereignis an, das indirekt über die Zukunft der EU mit entscheidet. Gewinnt nämlich die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen am 7. Mai 2017 gegen den Sozialliberalen Emmanuel Macron die Stichwahl, hätte dies unmittelbare Konsequenzen: Le Pen verspricht für den Fall ihres Wahlsieges nicht weniger als den EU-Austritt Frankreichs, die Abschottung des Landes durch Abriegelung seiner Außengrenzen sowie die Wiedereinführung des Franc. Der Austritt eines weiteren großen EU-Mitgliedslandes könnte, so die verbreitete Meinung, einen wichtigen Sieg für Populisten und das Anfang vom Ende der Europäischen Union bedeuten. Und obwohl alle Anzeichen auf eine Niederlage von Le Pen hindeuten, hat nicht zuletzt der Brexit gezeigt, dass die antieuropäische Stimmung und andere Faktoren wie etwa bewusst gestreute Falschinformationen oder Gerüchte Wahlen mitentscheiden können.

Um auf alle möglichen zukünftigen Entwicklungen vorbereitet zu sein, bietet es sich an, diese mit wissenschaftlichen Methoden durchzuspielen. Die Studie "EU break-up" des Fraunhofer ISI wählt genau diese Herangehensweise. Anhand einer umfassenden Analyse der politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wurden fünf potenzielle Entwicklungen ausgearbeitet. Diese basieren auf zwei Leitfragen, die sich zum einen mit dem Kampf gegen die negativen Folgen der Globalisierung sowie zum anderen mit dem Wettstreit politischer Ideen und insbesondere zwischen Demokraten und Populisten befassen.

„EU-Reformen“ oder „Business as usual“?
Im Falle einer Entwicklung hin zu tiefgreifenden „EU-Reformen“ könnte entweder eine vertiefte Integration oder umgekehrt eine geordnete Desintegration der EU die Folge sein. Insbesondere in der volkswirtschaftlichen Forschung hat sich der Konsens herausgebildet, dass eine Desintegration der EU notwendig wäre, falls keine tiefere Integration – zum Beispiel im Bereich der Fiskalpolitik – möglich ist. Aus politischen Gründen sind Reformen, egal welcher Art, aktuell jedoch höchst unwahrscheinlich. Auf langwierige Vertragsänderungsverfahren, ohne welche tiefgreifende Reformen nicht möglich sind, werden sich momentan weder Unterstützer noch Gegner der EU einlassen wollen.

Deshalb ist eine zweite Entwicklung unter dem Motto „Weiter wie bisher“ deutlich wahrscheinlicher. Hier bliebe alles wie gehabt. Die soziale Ungleichheit durch die Globalisierung könnte sich ausweiten und politische Entscheidungen weiter nach dem Mehrheitsprinzip und auf Basis des „kleinesten gemeinsamen Nenners“ stattfinden. Gegebenenfalls wird sich in diesem Kontext ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ herausbilden. Zur Überwindung von sozialer Ungleichheit und makroökonomischer Ungleichgewichte ist dieser Ansatz jedoch ungeeignet. Populistische Bewegungen, für deren Aufstreben die empirische Forschung vor allem die wachsende Ungleichheit sieht, könnten hieraus Profit schlagen und bei Regierungsbeteiligungen EU-Austritte ihrer Länder forcieren. Aus diesem Grund ist diese Entwicklung nur als Zwischenstation zu sehen, von der sich möglicherweise weitere Entwicklungspfade abspalten können.

Kommt es zu Austritten aus der Europäischen Währungsunion?
„Austritte aus der europäischen Währungsunion“ stellen eine weitere, parallele Entwicklungsmöglichkeit dar. Ohne wirtschaftlich notwendige aber politisch nicht realisierbare Reformen könnten makroökonomische Ungleichgeweichte zwischen export- und konsumorientierten Volkswirtschaften mittelfristig zu einer Destabilisierung des Euroraums führen. Insbesondere die hoch verschuldeten Staaten wie Griechenland, Italien, Portugal oder Spanien haben innerhalb des Euroraums keine Aussicht auf wirtschaftliches Wachstum. In Folge verstärkter Wahlerfolge populistischer Parteien, die sich gegen die EU-Sparprogramme und für die Wiedereinführung nationaler Währungen aussprechen, wäre ein Ausscheiden dieser Länder aus dem Euroraum möglich. Die übrigen Euroländer könnten sich dem deutschen exportorientierten Wirtschaftsmodell anpassen, was die Währungsunion vorläufig stabilisieren würde. Der von den Populisten angetriebene Protektionismus, sowie weitere mögliche Wirtschafts- und Finanzkrisen könnten jedoch mittel- bis langfristig auch zur Bedrohung für eine verkleinerte Währungsunion werden.

Sollte sich die wirtschaftliche Rezession in einigen Krisenländern und die damit einhergehende Zunahme sozialer Ungleichheit sowie die steigende Ablehnung der Globalisierung verschlimmern, werden „EU-Austritte“ sowie ein „Zerfall der EU“ wahrscheinlicher. Allerdings setzt dies nicht nur weitreichende Wahlerfolge von Populisten, sondern auch das Abhalten von EU-Referenden zu möglichen EU-Austritten von Mitgliedsländern sowie eine breite Zustimmung der Bevölkerung voraus. Referenden sind aus verfassungsrechtlichen Gründen aber nicht in allen Mitgliedsstaaten möglich, zudem liegt die europaweite Unterstützung für populistische Parteien immer noch unter 20 Prozent. Trotzdem hat das Beispiel „Brexit“ gezeigt, dass solche Austritzszenarien nicht mehr völlig undenkbar sind.

Dr. Niclas Meyer, Autor der Studie „EU break-up“, kommt zu folgendem Schluss: „Die europäische Politik ist dem aufstrebenden Populismus völlig hilflos ausgeliefert - sowohl was den Kampf gegen die negativen Folgen der Globalisierung als auch den Wettstreit politischer Ideen anbelangt. Die Studie empfiehlt der Politik und den EU-Mitgliedsländer deshalb, dass sie alles daran setzen sollten, um Ungleichheit und makroökonomische Ungleichgewichte einzugrenzen. Die EU verfügt hier jedoch nicht über die notwendigen fiskalpolitischen Kompetenzen. Und zur Eindämmung des Populismus fehlt es ihr an Vordenkern und politischer Sichtbarkeit.“

Die Zukunft der EU wird vielmehr auf nationaler Ebene entschieden. Die Mitgliedsstaaten sollten auf konstitutioneller Basis Vorkehrungen treffen, um die Einfachheit von EU-Austritten künftig zu erschweren. Insbesondere sollte dies allein auf Basis breiter politischer Mehrheitsverhältnisse möglich sein – und keinesfalls nur durch Referenden. Populistische Parteien müssten deshalb erst einmal starke Regierungen stellen – und davon sind sie aktuell meilenweit entfernt.

Aussender:
Fraunhofer-Institut für System-
und Innovationsforschung (ISI)
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Anne-Catherine Jung
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