Leak aus iranischer Justiz
Redaktion: Reporter ohne Grenzen
PRESSEMITTEILUNG
Berlin/gc. Mindestens 860 Journalisten sind im Iran allein zwischen 1979 und 2009 verfolgt, festgenommen, inhaftiert und in manchen Fällen hingerichtet worden. Das belegen geleakte Informationen aus dem iranischen Justizministerium, die Reporter ohne Grenzen (ROG) zugespielt wurden. ROG hat sie am 7. Februar 2019 anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Islamischen Republik Iran auf einer Pressekonferenz in Paris erstmals veröffentlicht. Die Informationen zeigen, in welchem Ausmaß das iranische Regime die juristische Verfolgung von Medienschaffenden in den vergangenen Jahrzehnten vertuscht hat.
„Mithilfe dieser Datei können wir endlich nachweisen, dass das iranische Regime über Jahrzehnte die Weltöffentlichkeit belogen hat. Wir wissen jetzt, dass es hunderte Journalisten und tausende politische Gefangene inhaftiert und viele von ihnen gefoltert und ermordet hat. Über Jahrzehnte hat die iranische Regierung sie auf perfide und unbarmherzige Weise für ihre Überzeugungen oder ihre unabhängige Berichterstattung verfolgt“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir werden unsere Erkenntnisse der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet vorlegen, damit der Iran sich für seine Taten verantworten muss.“
In der Datei des iranischen Justizministeriums sind alle durch die iranischen Behörden vorgenommenen Festnahmen, Inhaftierungen und Hinrichtungen in der Region Teheran über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten verzeichnet. Sie wurde ROG von Whistleblowern zugespielt, die der Öffentlichkeit ebenso wie den internationalen Institutionen die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land bewusstmachen wollen. Die Aufbereitung der Informationen wurde von einem Ausschuss unabhängiger iranischer Menschenrechtsexpertinnen und -experten unter dem Vorsitz der Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi beaufsichtigt.
Insgesamt enthält die Datei rund 1,7 Millionen Einträge über Gerichtsverfahren, von denen Personen aus allen Bereichen der iranischen Gesellschaft betroffen waren: Männer, Frauen und Jugendliche; Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten; Personen, denen nichtpolitische Straftaten vorgeworfen wurden; politische Gefangene, zu denen auch Regimegegner und Journalisten zählen.
ROG hat sich auf den Zeitraum 1979 bis 2009 konzentriert und ist nach monatelangen Auswertungen zu dem Schluss gekommen, dass in diesem Zeitraum mindestens 860 Journalistinnen und Journalisten sowie Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten unter den Betroffenen waren. Zu jeder betroffenen Person sind in der Datei Name, Geburtstag, Geburtsort, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Datum des Akteneintrags, Datum der Festnahme, die für die Festnahme verantwortliche Behörde, das zuständige Gericht, die zuständige Staatanwaltschaft, das Datum des Urteils sowie das Strafmaß vermerkt.
Die Berufe der betroffenen Personen werden nicht genannt, insofern taucht das Wort „Journalist“ in der Datei nicht auf. Dieser Umstand erleichtert es den Behörden, zu behaupten, dass im Iran keine Journalisten bzw. keine politischen Gefangenen inhaftiert sind. Diese Lüge wird vom iranischen Regime bewusst verbreitet, um Kritik zu entkräften und Menschenrechtsorganisationen zu täuschen.
Einige Medienschaffende wurden aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe wie „Kollaboration mit einem fremden Staat“, „Aktivitäten gegen die innere Sicherheit“, „Anti-Regierungs-Propaganda“ und „Spionage“, aber auch „Beleidigung alles Heiligen und des Islam“ und „Beleidigung des Obersten Führers“ inhaftiert. Mindestens 57 Journalistinnen und Journalisten sind unter Anklagepunkten dieser Art verzeichnet.
Den meisten betroffenen Medienschaffenden wurden Grundrechte verwehrt. Sie wurden in Isolationshaft untergebracht, ihnen wurde der Zugang zu einem Anwalt, der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien oder medizinische Versorgung verweigert, einige wurden misshandelt oder gefoltert. Die nun bekannt gewordenen Informationen belegen erstmals derartige Verbrechen, die die iranischen Behörden bislang vertuschen oder verschleiern wollten. Sie werfen auch ein neues Licht auf die Bedingungen, unter denen Journalisten im Iran inhaftiert wurden und welche Vorwürfe gegen sie erhoben wurden.
Zu den prominenteren betroffenen Journalistinnen und Journalisten gehören Farj Sarkhohi, Reza Alijani, Taghi Rahmani, Akbar Ganji, Jila Bani Yaghoob und ihr Ehemann Bahaman Ahamadi Amouee, Said Matinpour, Mohammad Sedegh Kabodvand, Hengameh Shahidi, Narges Mohammadi und Ahmad Zeydabadi.
MINDESTENS VIER HAUPTBERUFLICHE JOURNALISTEN HINGERICHTET
Mindestens vier hauptberuflich arbeitende Journalisten wurden zwischen 1979 und 2009 im Iran hingerichtet: Ali Asgar Amirani, Said Soltanpour, Rahman Hatefi-Monfared und Simon Farzami. Im Falle Farzamis bestätigt die Datei erstmals, dass er von den Behörden festgenommen wurde und was sie ihm vorwarfen. Der schweizerisch-iranische Staatsbürger jüdischer Herkunft war Bürochef von AFP in Teheran und Redakteur der französischsprachigen Zeitung Le Journal de Téhéran. Er wurde im Mai 1980 festgenommen und der Spionage für die USA angeklagt. Sechs Monate später wurde er im Alter von 70 Jahren im Evin-Gefängnis hingerichtet. Dutzende weitere politische Gefangene, darunter Blogger und politische Aktivisten, die Presseerzeugnisse herausgaben, wurden ebenfalls hingerichtet.
Die iranischen Behörden bestreiten bis heute, die kanadisch-iranische Journalistin Zahra Kazemi getötet zu haben. Kazemi wurde am 23. Juni 2013 festgenommen, als sie die Familien von Inhaftierten vor dem Teheraner Evin-Gefängnis fotografierte. Sie wurde im selben Gefängnis brutalst misshandelt und erlag am 10. Juli 2003 ihren Verletzungen. Ein offizieller Bericht, der wenige Tage später veröffentlicht wurde, enthielt keine Todesursache. Die neuen Informationen zeigen, dass die Behörden alles versuchten, um die wahren Umstände ihres Todes zu vertuschen, zum Beispiel indem die Festnahme nachträglich auf den 1. Juli datiert wurde. Auch taucht ihr Name sechs Monate nach ihrem Tod unter einem weiteren Aktenzeichen auf, mit dem Vorwurf der „Aktivitäten gegen die innere Sicherheit“.
Viele Festnahmen wurden nie offiziell von den Behörden bestätigt. Der Fall von Farj Sarkhohi ist beispielhaft. Der Redakteur einer führenden Politik- und Kultur-Zeitschriften des Landes, Adineh, wurde am 3. November 1996 vom Geheimdienst entführt, als er gerade ein Flugzeug nach Deutschland besteigen wollte. Dort hatte er einen Familienbesuch geplant. Das Regime behauptete, Sarkhohi sei erst nach seiner Abreise nach Deutschland verschwunden und berief sich darauf, dass sein Visum bereits abgestempelt war. Viele NGOs, darunter auch ROG, warfen dem Regime damals vor, das Verschwinden inszeniert zu haben. Nach internationalem Druck gab die Regierung schließlich eine Pressekonferenz, auf der sie Sarkhohi der Öffentlichkeit präsentierte. Angeblich war er gerade aus Turkmenistan zurückgekehrt. Die geleakte Datei belegt nun erstmals, dass er in Wahrheit zwei Monate im Gefängnis verbracht hatte.
218 JOURNALISTINNEN BETROFFEN
Unter den insgesamt 61.924 erwähnten Frauen sind 218 Journalistinnen. Zu ihnen gehört Jila Bani Yaghoob, eine prominente Frauenrechtsaktivistin, Reformerin und Redakteurin der Webseite Kanoon Zanan Irani (Zentrum Iranischer Frauen). Sie wurde erstmals auf einem Treffen zum Weltfrauentag 2003 festgenommen und musste eine Woche mit verbundenen Augen im Evin-Gefängnis verbringen. Später veröffentlichte sie außerhalb des Iran ein Buch über ihre Erlebnisse. 2019 verurteilte sie ein Gericht in Teheran wegen „Anti-System-Propaganda“ und „Beleidigung des Präsidenten“ zu einem Jahr Gefängnis und einem 30-jährigen Berufsverbot als Journalistin. Ihr Name taucht in der Datei mehrmals auf, was belegt, wie systematisch sie von verschiedenen Stellen juristisch verfolgt und immer wieder festgenommen wurde.
ZEHNTAUSENDE BÜRGER WURDEN FESTGENOMMEN
Die Datei belegt zudem erstmals, dass insgesamt 6.048 Personen wegen ihrer Beteiligung an Protesten gegen die Wiederwahl von Mahmud Ahmadinedschad als Staatspräsident im Jahr 2009 festgenommen wurden. Gut 600 Frauen und 5.400 Männer wurden der „Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit“ beschuldigt. Dieser Vorwurf wurde auch benutzt, um eine Vielzahl von Journalisten und Bürgerjournalisten, die über die Proteste berichteten, zu verhaften und zu verurteilen. Bisher hatte das Regime immer bestritten, Bürger allein für die Beteiligung an Demonstrationen festzunehmen.
Von den 61.940 politischen Gefangenen waren den Akten zufolge mindestens 520 zum Zeitpunkt ihrer Festnahme zwischen 15 und 18 Jahre alt. Die Datei liefert auch Information über die Massaker von 1988, bei denen zwischen Juli und September des Jahres rund 4.000 verurteilte politische Häftlinge auf Anweisung des Obersten Führers Ayatollah Khomeini hingerichtet wurden. Die meisten von ihnen wurden in Gefängnissen in der Region um Teheran getötet und in Massengräbern auf dem Khavaran-Friedhof südlich der Stadt begraben. Das Regime hat diese Massenhinrichtungen immer bestritten. Auf Basis der Datei kann auch erstmals bestätigt werden, dass 5.760 Anhänger der Baha’i-Religion wegen „Mitgliedschaft in einer Sekte“ inhaftiert und in einigen Fällen hingerichtet wurden. Auch diese religiöse Verfolgung hatte das Regime immer bestritten.
Viele prominente Iraner werden in den Akten erwähnt, darunter Shirin Ebadi, die Sacharow-Preisträgerin Nasirin Sotoudeh, der frühere Präsident der Internationalen Föderation der Ligen für Menschenrechte (FIDH) und die Frauenrechtlerin Mansoreh Shojai. Die meisten von ihnen konnten das Land verlassen und wurden nie festgenommen. Dass sie trotzdem erwähnt werden, zeigt, dass das Regime vorhatte, sie zu verfolgen, und dass Haftbefehle erlassen wurden.
MONATELANGE DATENABGLEICHE BELEGEN
ZUVERLÄSSIGKEIT DER INFORMATIONEN
ROG hat die Informationen aus der Datei über Monate mit eigenen Listen im Iran inhaftierter Journalistinnen und Journalisten abgeglichen sowie mit Listen, die andere NGOs über die Jahre 1979 bis 2009 geführt haben, und mit Informationen, die von den Vereinten Nationen veröffentlicht wurden. Neben den Angehörigen des von ROG einberufenen Ausschusses zu Auswertung der Daten wurde eine Vielzahl weiterer Experten zur Genauigkeit der erhobenen Daten befragt.
Dem Ausschuss gehören an:
● Shirin Ebadi (Vorsitzende): Menschenrechtsanwältin und
Friedensnobelpreisträgerin 2003
● Monireh Baradaran: Menschenrechtsaktivistin, Autorin mehrerer Bücher
über die iranische Justiz, politische Gefangene in den 1980er-Jahren
● Iraj Mesdaghi: Menschenrechtsaktivist, Wissenschaftler, Autor mehrerer
Bücher über Hinrichtungen politischer Gefangener im Iran, politischer
Gefangener in den 1980er-Jahren
● Reza Moini: Iran-Experte bei Reporter ohne Grenzen
Der Ausschuss soll sicherstellen, dass die Veröffentlichung der geleakten Daten mit internationalen Menschenrechtsstandards vereinbar ist. Er soll zudem sicherstellen, dass die Verwendung der Daten mithilft, die Menschenrechtssituation im Iran und vor allem das Recht der Opfer auf Aufarbeitung und Gerechtigkeit zu verbessern.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt der Iran auf Platz 164 von 180 Staaten. Mehr Informationen zur Lage der Pressefreiheit im Iran finden Sie hier: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/iran
Aussender:
Reporter ohne Grenzen e.V.
Deutsche Sektion von Reporters sans frontières
Friedrichstraße 231
10969 Berlin
Ulrike Gruska
Christoph Dreyer
Anne Renzenbrink
Juliane Matthey
Tel.: 030 609 895 33 55
Fax: 030 202 15 10 29
presse@reporter-ohne-grenzen.de
______________________________________________