Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR
Redaktion: Unabh. Kommission zur Aufarbeitung sex. Kindesmissbrauchs
PRESSEMITTEILUNG
Berlin/gc. Sexueller Kindesmissbrauch wurde in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in der alten Bundesrepublik. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat eine Fallstudie veröffentlicht zu sexuellem Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR.
Bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs haben sich seit 2016 zahlreiche Betroffene gemeldet, die in vertraulichen Anhörungen oder schriftlichen Berichten sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit und Jugend in der DDR schilderten. Die Kommission veröffentlichte Mittwoch, 6. März 2019, eine Fallstudie zu den Schwerpunkten Institutionen und Familie, in der 75 vertrauliche Anhörungen und 27 Berichte ausgewertet wurden.
Die Fallstudie ordnet die Erfahrungsberichte in den historischen Kontext ein wie das staatlich-repressive DDR-Erziehungssystem oder das sozialistisch geprägte Menschen- und Familienbild der DDR. Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab es in der DDR in allen Schichten, ähnlich wie in der alten Bundesrepublik. Gleichzeitig gibt es Besonderheiten, die mit den politischen Hintergründen, dem Machtsystem zu tun haben. Das Thema sexueller Kindesmissbrauch in der DDR war weit mehr und länger tabuisiert als in der alten Bundesrepublik. Es wurde weder privat noch öffentlich über sexuelle Gewalt in der Familie oder in Institutionen gesprochen. Sexueller Kindesmissbrauch passte nicht in das Bild der „heilen sozialistischen Gesellschaft“.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin a. D. und Mitglied der Kommission:„Das Schweigen wirkte lange nach und hält bis heute an. Noch immer sagen Betroffene, dass sie kaum über ihren Heimaufenthalt in der DDR oder über die erlittene sexualisierte Gewalt sprechen können. Die Kommission dankt den Betroffenen, die sich dennoch an die Kommission gewandt haben, um mit ihrer Geschichte andere Betroffene zu ermutigen und das Schweigetabu aufzubrechen.“
Die Studie umfasst zwei Teile: Teil 1 zum Tatkontext Institutionen wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Beate Mitzscherlich erarbeitet und Teil 2 zum Tatkontext Familie unter der Leitung von Prof. Dr. Cornelia Wustmann. In 29 Anhörungen und Berichten legten Betroffene Zeugnis über die sexuelle Gewalt ab, die ihnen in ihrer Kindheit in Einrichtungen der DDR geschehen ist. Als Institutionen benannten sie vor allem Heime und Jugendwerkhöfe, aber auch Schule, Musikschule oder die Freizeiteinrichtung Pioniereisenbahn. Die Heimerziehung der DDR muss man als geschlossenes System in einem geschlossenen System DDR begreifen. Wenn als Reaktion auf die Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch Kinder und Jugendliche versuchten, aus Heimen und Werkhöfen zu fliehen, endete diese Flucht spätestens an der Staatsgrenze der DDR. Flucht- und Suizidversuche führten in der Folge häufig zur Verlegung in restriktivere Heime bis zu den geschlossenen Jugendwerkhöfen. Innerhalb der Geschlossenheit der Heime konnte sexueller Missbrauch ausgeübt, verdeckt und normalisiert werden. Zudem führte der ideologisch begründete Erziehungsauftrag der Heime – die Umerziehung – zu Willkür auf der Täterseite und einem extremen Ausgeliefertsein auf der Opferseite.
Heimaufenthalte insbesondere in Jugendwerkhöfen führten zu Bildungsabbrüchen, so dass für die Betroffenen neben den schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen auch der berufliche Werdegang reduziert wurde. In 72 schriftlichen Berichten und vertraulichen Anhörungen beschreiben Betroffene, was sie in ihren Familien an physischer, psychischer und sexueller Gewalt erlebt haben. Sexualisierter Missbrauch an Mädchen und Jungen in der Familie zieht sich durch alle Schichten und Berufsgruppen. Täter sind Väter, Mütter, Großväter, Brüder und Cousins. Betroffene berichten der Kommission von der hochgradigen Verschwiegenheitsverpflichtung in den Familien, die es ihnen in Kindheit und Jugend unmöglich machten, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Nach außen musste das Bild einer glücklichen Musterfamilie der DDR gelebt werden. Abweichungen konnten gesellschaftliche Sanktionen nach sich ziehen. Betroffene konnten, wenn überhaupt, erst nach dem Ende der DDR über die erlittene sexuelle Gewalt berichten und therapeutische Unterstützung finden.
Die lange Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs in der DDR hat zur Folge, dass in der Gesellschaft wenig darüber bekannt ist und Betroffene sich häufig stigmatisiert fühlen. Es fehlt an Hilfen wie Selbsthilfegruppen und Beratungseinrichtungen. Es fehlt an ausreichenden Therapieangeboten und es fehlt an finanzieller Unterstützung.
Aus den Ergebnissen und Schlussfolgerungen der Fallstudie hat die Kommission Empfehlungen abgeleitet. Diese sehen zum Beispiel eine weitere Erforschung der Rolle staatlicher Institutionen und Funktionsträger bei der Etablierung und Vertuschung von Gewaltstrukturen vor. Betroffeneninitiativen und Selbsthilfegruppen müssen finanziell unterstützt werden. Das Angebot an Fachberatungsstellen muss erweitert und ausreichend finanziert werden. Bedarfsgerechte Therapieangebote sind sicherzustellen. Und es braucht ein dauerhaftes ergänzendes Hilfesystem für Betroffene sexuellen Missbrauch.Umfassende Empfehlungen auch zum Schwerpunkt sexueller Kindesmissbrauch in der DDR veröffentlicht die Kommission in ihrem Bilanzbericht am 3. April 2019.
Download Fallstudie „Sexueller Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR“: www.aufarbeitungskommission.de/fallstudie-sexueller-kindesmissbrauch-ddr
Betroffene und andere Zeitzeugen, die sich über die Arbeit der Kommission informieren oder sich für eine vertrauliche Anhörung anmelden oder einen schriftlichen Bericht einreichen möchten, können sich telefonisch (0800 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. Weitere Informationen unter www.aufarbeitungskommission.de.
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