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Montag, 22. Juli 2019

Die Pflegedebatte ist in weiten Teilen nur ein Ablasshandel

von Jürgen Rathje
KOMMENTAR
Der Ablasshandel hat in deutschen Landen eine lange Tradition. Mit ihm wird nicht die Sünde vergeben, sondern nur die Sündenstrafe erlassen. Du sündigst, aber gehst gegen die Zahlung eines Ablasses trotzdem straffrei aus.

Dieser Betrug erfreut sich seit altersher großer Beliebtheit. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ Mit diesem Satz soll der Ablassprediger Johann Tetzel für die Kirche so viel Geld eingesammelt haben, dass ein erheblicher Teil des  Vatikans neu gebaut werden konnte. Die Masche funktioniert bis heute.

Flugreisende zahlen eine Klimapauschale und können guten Bio-Gewissens rund um den Erdball jetten. Mit dem Elektro-SUV lassen sich die Bio-Brötchen aus der Region so bequem einkaufen wie vorher mit dem Diesel-Panzer. Ein Kreuzfahrtschiff fährt als Hotel immer mit zu neuen Horizonten. Nicht nur in der Freizeitwirtschaft oder in der Autoindustrie hat sich der Ablasshandel erhalten. Er findet sich auch in der Pflege – in ihrer Finanzierung.

Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden, so eine oft erhobene Forderung. Natürlich nur die Examinierten. Pflegehelfer, Reinigungskräfte, Wäscher und Köche bleiben unsichtbar. Holt sie doch mal einer aus ihrer Versenkung heraus, heißt es unisono: Wer soll das bezahlen? Vor fast einem Viertel Jahrhundert kam ein neuer Ablassbrief. Die Pflegeversicherung. Chronisch unterfinanziert, kaum wirksam, dafür mit einem neuen Heilsversprechen. Die Kinder sind der Sorge um ihre alten Eltern enthoben.

Der Ablass funktioniert nicht. Zu dünne Personaldecken und zu hohe Fachkräftequoten sowie eine immer umfangreicher und zeitraubender werdende Dokumentationspflicht sorgen dafür, dass immer weniger Zeit am Menschen gearbeitet wird. Was nützt mehr Geld, wenn die Beschäftigten – nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Hauswirtschaft – an ihren Dienstplänen verzweifeln? Was nützt mehr Geld, wenn die Personaldecke durch starke Fluktuationen und hohe Krankenstände bis zum Reißen gespannt ist.

Wenn wir immer nur mehr Geld ins System geben, ohne jedoch die Bedingungen und Strukturen zum Wohl der Beschäftigten zu ändern, dann bleibt die Pflege nur ein selbstbetrügerischer Ablasshandel. Dessen Sünden holen uns ein, wenn wir selbst alt geworden sind.

Bildunterschrift:
Jürgen Rathje, Unternehmensberater in Schwerin. Foto: Heiko Wruck
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