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Sonntag, 30. August 2020

Das Gewicht unserer Werte

Die Eigenpositionierung entscheidet

von Heiko Wruck
AUFSATZ
30 Jahre nach der Wiedervereinigung erlebt Deutschland einen beispiellosen Niedergang humanistischer Werte. Wer hätte es je für möglich gehalten, dass es in diesem Land Faschisten erneut gelingt, öffentlichen Raum zu besetzen, politische Macht zu gewinnen und die Themen gesellschaftlichen Handels zu bestimmen. Dies alles mit staatlicher Unterstützung.

Das wird man ja nochmal sagen dürfen ...

Rassismen, Verleumdungen, Diskriminierungen und Diffamierungen sowie Geschichtsfälschungen sind wieder sagbar geworden. Eine laxe Rechtssprechung sowie eine überaus starke Zurückhaltung der Exekutive verstärken diese Entwicklung. Das müsse eine Demokratie aushalten, so lautet das neue Heilsversprechen der angeblich aufgeklärten Gesellschaft. Sie ist zu bequem, zu träge, oft auch zu feige, um sich klar abzugrenzen. Nicht nur verbal, sondern auch tatsächlich. Zeitungen drucken Anzeigen von Parteien ab, deren Spitzenpolitiker faschistische Ansichten propagieren. Öffentlich-rechtliche Sender bieten Faschisten Podien mit riesigen Reichweiten. Bürgerliche Politiker sind bereit, sich von Faschisten in politische Ämter hieven zu lassen. Doch auch im Privaten wird kollaboriert. Wer kündigt seine Freundschaft zu Rassisten, Verschwörungsschwurblern, Volksverhetzern und Faschisten? Wer hat dies konkret getan? Es dürften die wenigsten Menschen sein, die diese Konsequenz an den Tag legen.

Relativierung: Der Staat hilft mit

Alljährlich am 20. Juli wird mit staatstragender Würde des Hitler-Attentats des Grafen Stauffenberg gedacht. Doch Claus Schenk Graf von Stauffenberg war ein Faschist. Er war ein bekennender Nationalsozialist und er war ein Antisemit. Bis zum Schluss. All dies ist historisch belegt. Ungeachtet dessen wird dieser Faschist heute von demokratischen Politikern in Deutschland glorifiziert, weil er versucht hat, einen anderen Faschisten umzubringen. Dieses gescheiterte Attentat erfolgte knapp zehn Monate vor Kriegsende. Also zu einem Zeitpunkt zu dem klar war, dass der Krieg verloren war. Eines der Ziele der Gruppe um Stauffenberg bestand darin, lediglich einen separaten Frieden mit den Westalliierten zu schließen, im Osten jedoch den Krieg weiterzuführen. Der Massenmord in Konzentrationslagern wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor und vielen anderen war kein expliziter Bestandteil dieser Friedensüberlegungen.

Dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs kann man das ebenfalls gescheiterte Attentat von Georg Elser gegenüberstellen. Der Kunstschreiner Johann Georg Elser hatte als Einzeltäter versucht, am 8. November 1939 mittels einer im Münchner Bürgerbräukeller versteckten Bombe Hitler und die gesamte Nazi-Führungsclique zu töten. Das Attentat scheiterte, weil Hilter und der Rest seiner Clique den Saal ungeplant vorzeitig verlassen hatten.

Stauffenberg wird alljährlich staatstragend von der deutschen Politik glorifiziert. Elser ist dagegen fast vergessen und wird, wenn überhaupt, nur als Randnotiz erwähnt. Das wundert nicht. Der glorifizierte Adelsspross ist das Feigenblatt des angeblichen bürgerlichen Widerstands gegen das NS-Regime. Tatsache jedoch ist: Es war das Bürgertum, das den späteren Massenmörder Hitler und seine Helfer erst begrüßt, dann protegiert, finanziert und schließlich sich ihm angedient hat. Als Feigenblatt des bürgerlichen Widerstands taugt der einfache Handwerker Elser mit seinem proletarischen Stallgeruch und mit seinem kommunistischen Hintergrund jedoch nicht.

Verdrängung bis heute

Der Unterschied zwischen dem Elser- und dem Stauffenberg-Attentat besteht darin: Elser wollte Hitler und seine Führungsspitze töten, damit die Nazis keinen Erfolg haben. Stauffenberg wollte Hitler beseitigen, eben weil Hitler keinen Erfolg hatte.

Diese wichtige Unterscheidung spielt im heutigen öffentlichen Gedenken keine Rolle. Damit glorifizieren bis heute höchste Politiker in Deutschland den gescheiterten Versuch eines Faschisten, einen anderen Faschisten wegen dessen Erfolglosigkeit umzubringen.

Deutschland wurde nicht befreit, sondern besiegt

Diese Wahrheitsverdrängung begleitet die Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Hochrangige Faschisten wurden nach dem Krieg in höchste Regierungsämter berufen. Staatliche Institutionen hatten nicht nur überzeugte Nationalsozialisten als Geburtshelfer an ihrer Seite, sondern sie leiteten deren Aufbau und wirkten bis weit in die Nachkriegsjahrzehnte hinein. Sie förderten ihre Nachfolger, besetzten Richterstühle, wurden höchste Beamte und waren führende sowie Spitzenpolitiker in Bund und Ländern. Die Folgen waren unter anderem, dass Bundeswehrkasernen jahrzehntelang nach Nazi-Größen benannt wurden. Von Traditionslinien ganz zu schweigen. Auch der Bundesnachrichtendienst und der Verfassungsschutz hatten tiefbraune Wurzeln auf allen Ebenen. Selbst die ersten Regierungskoalitionen Adenauers wurden mit erklärten Nazis, der Deutschen Partei, eingegangen. In der Deutschen Partei hatten sich all jene versammelt, denen die damalige CDU und CSU zu links waren. Die kollektive Verdrängung der Nazi-Vergangenheit hielt sich in sämtlichen Institutionen und wurde zum gesellschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik.

Ähnliches passierte auch in der DDR

Dort jedoch mit dem Unterschied, dass der Antifaschismus als DDR-Gründungsmythos staatlich aufgezwungen war. Eine echte Auseinandersetzung mit dem Faschismus fand weder im Osten noch im Westen statt. So verschwieg man in der DDR geflissentlich die Kooperation der Kommunisten mit den Nazis. Bereits zu Beginn der 1920-er Jahre hatte der Reichswehroffizier Hans von Seeckt eine geheime Zusammenarbeit zwischen sowjetischer Roter Armee und deutscher Reichswehr in die Wege geleitet, um die im Versailler Vertrag bestimmte Entwaffung Deutschlands zu umgehen.

Eine weitere Kooperation zwischen Kommunisten und Nazis war zum Beispiel der Berliner Verkehrsarbeiterstreik im November 1932. Der Ausstand war von KPD- und NSDAP-Leuten gemeinsam organisiert worden. Walter Ulbricht und Joseph Goebbels hatten im Hintergrund die Weichen gestellt („Nähe zum Gegner. Kommunisten und Nationalsozialisten im Berliner BVG-Streik von 1932“ von Klaus Rainer Röhl). Der gemeinsame Feind war die Weimarer Demokratie. Um die Hitler-Bewegung zu schwächen, hatte der KPD-Führer Ernst Thälmann seine Mitstreiter aufgefordert, explizit Nationalsozialisten in die Streikkomitees zu integrieren.

Doch auch nach der Machtergreifung der Nazis und der Kommunistenverfolgung in Deutschland gab es Kooperationen. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 beinhaltete ein gemeinsames geheimes Zusatzprotokoll, das einen deutsch-sowjetischen Angriffsvertrag auf Polen, die Aufteilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion sowie das Schicksal der drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland regelte.

Eine weitere Vereinbarung zwischen Nazis und Sowjet-Kommunisten war der – nach dem deutschen Überfall auf Polen vereinbarte – Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939. In diesem Vertrag waren weitreichende Umsiedlungsaktionen in Polen vereinbart worden, die von der deutschen SS und dem sowjetischen Geheimdienst NKWD gemeinsam geleitet wurden. Bis heute wird in Russland dieser Teil der Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland verschwiegen.

Zu dieser „vergessenen“ historischen Wahrheit gehören auch die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1939 und 1941. Die Auslieferung deutscher Kommunisten aus dem sowjetischen Exil an Nazi-Deutschland sowie umfassende militärische und wirtschaftliche Kooperationen zwischen den Vertragspartnern müssen hier ausgeleuchtet werden.
Von all diesen Vorgängen wurde in der DDR offiziell nichts vermittelt.

Parallelen zum Hier und Jetzt

In Deutschland gewinnen zunehmend Stimmen die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Demokratie abschaffen wollen. Konsens und Kompromiss werden zunehmend verpönter. Die Parlamente werden bereits wieder als Quasselbuden diffamiert. Der Ruf nach starken Führern und zentralstaatlicher Entscheidungsgewalt tönt längst über die Stammtische hinaus und an manchem Küchentisch feiert die Sehnsucht nach einem starken Führer fröhliche Urständ.

Die Weimarer Republik im Heute

Die Weimarer Republik war dafür bekannt, dass rechte Gewalttaten kaum geahndet wurden. Und wenn es eine Ahndung gab, so fiel sie überaus milde aus. Ähnliche Entwicklungen sehen wir auch heute bei der Rechtssprechung in Bezug auf rechte Gewalttaten. Die Lippenbekenntnisse der Politiker werden inflationär mittels ihrer Sonntagsreden unters Volk gebracht. Tatsächlich aber tut sich nichts. Es wird erlaubt, dass Politiker beschimpft, beleidigt, bedroht, verletzt und getötet werden. Rechte Netzwerke durchsetzen Armee und Polizeien. Und selbst die Geheimdienste des Landes können sich nicht vom Vowurf freimachen, mit Geld und Personal faschistischen Terror nicht nur gedeckt, sondern auch ermöglicht und gefördert zu haben. All dies bleibt ohne wesentliche Konsequenzen. Wie weiland in der Weimarer Zeit so entwickeln sich mit unmittelbarer staatlicher Unterstützung neue faschistische Netzwerke, die bereits jetzt ihre Opfer fordern und ihre Leute an wichtigen Stellen positionieren.

Nazi ist, wer mit Nazis marschiert

Das Querfrontdenken der Weimarer Zeit wiederholt sich heute. Damals gab es sich überschneidende Interessen und kurzlebige Zweckbündnisse zwischen Nazis und Kommunisten. Auch heute gibt es diese Überschneidungen und Zweckbündnisse mit Nazis und allen anderen Feinden der Demokratie. Eine Abgrenzung von solchen Veranstaltungen wie den „Freiheitsdemonstrationen“ unter der Reichskriegsflagge in Berlin findet nicht statt. Eine berufliche und private Ausgrenzung von Volksverhetzern, politischen Gewalttätern und verständnisvollen Mitläufern passiert nicht. Es wird wieder weggeschaut, relativiert und gelogen: wie in Weimar, wie in der DDR, wie in der alten Bundesrepublik. Die Rückgratlosigkeit deutscher Politiker macht sie zu Gehaltsempfängern lupenreiner Demokraten, zu Honorarberatern von Ausbeuterbetrieben, zu willfährigen Werkzeugen von Lobbyisten und führt schließlich in Koalitionen, die vorher großspurig ausgeschlossen werden.

Der weitere Weg wird sichtbar

In vielen Ländern der Europäischen Union sind rechte Parteien heute bereits zweit- oder drittstärkste politische Kraft. Egozentrik, Egoismus und Fremdenfeindlichkeit bestimmen maßgeblich das politische Handeln der Union. Menschlichkeit, Anstand, Würde und Fairness sind bereits jetzt akut ins Hintertreffen geraten. Alle Zeichen weisen auf die staatstragende Neuetablierung des Faschismus in Europa. Die Polizeien werden mit immer weiterreichenden Repressionsbefugnissen ausgestattet. Der Sinneswandel wurde auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild deutlich. Heute haben beispielsweise in Deutschland Polizeiuniformen wieder eine starke militärische Anmutung. Entsprechend dominant treten die Ordnungshüter auf. Der Konformitätsdruck erhöht sich ständig. Wer heute aktiv für humanistische Werte, für intellektuellen Austausch, für Konsens, für Kompromiss, für Fairness oder für Mitmenschlichkeit eintritt, wird als Gutmensch verspottet und als politisch nicht handlungsfähig diffamiert.

Wenn es nicht gelingt, diese Prozesse umzukehren, wird ein erneuter Faschismus nicht zu verhindern sein. Die Tatsache, dass es ihn auf deutschem Boden, in Europa und in anderen Staaten bereits gegeben hat, macht eine Wiederholung möglich. Autokraten an der Staatsspitze sind dafür nur die Vorstufe.

Freiheit braucht öffentliches Engagement

Unternehmen, die sich öffentlich zu humanistischen und sozialen Werten bekennen, sind heute die Ausnahme. Menschen, die sich öffentlich, beruflich und privat konsequent von Demagogen, Rassisten und Menschenfeinden abgrenzen, sind selten sichtbar. Medien, die Faschisten, Demokratiefeinden und Demagogen eine Bühne bieten, verdienen Verachtung und nicht verständnisvollen Zuspruch für ihre angebliche Meinungspluralität. Freiheit braucht öffentliches Engagement. Jetzt. Immer.

Kontakt:
Heiko.Wruck@t-online.de
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