von Tobias Metz
AUFSATZ
Viele Veränderungen nehmen wir erst wahr, wenn wir selbst an unsere Grenzen stoßen. Das liegt daran, dass wir im Alltag so fest in unsere Gewohnheiten eingebunden sind, dass wir unser Leben in der Hauptsache als fast unveränderliches Standbild erleben und nicht als tägliche Filmsequenz mit fortschreitender Entwicklung.
Plötzlich wird eine neue Seite mit einem neuen Standbild aufgeschlagen und wir richten uns ein. Bis die nächste Seite aufgeschlagen wird. Den Prozess des Umblätterns bekommen nur wenige Menschen mit. Nur die Visionäre unter uns, blättern schon mal ein paar Seiten weiter, um zu erfahren, wie die Zukunft aussehen könnte. Um wie viele Seiten haben Sie Ihr Buch des Lebens umgeblättert?
In der Vergangenheit waren es wohl einige. Sie haben die Grundschule besucht. Haupt- und Realschule hinter sich gebracht. Vielleicht ein Abitur erworben. Möglicherweise folgten dann ein Facharbeiterabschluss, ein Fach- oder Hochschulstudium. Schließlich kamen ein Bachelor-, Master- oder Diplomabschluss dazu. Manche brachten es zu Doktorwürden. Wenn Sie sich zurückbesinnen, dann scheint aus heutiger Sicht die damalige Entwicklung überschaubar. Das erlernte Wissen hatte eine deutlich längere Halbwertzeit als heute. So verhält es sich auch mit den Berufen und Geschäftsmodellen. Hauptsächlich im Handwerk wurden die Berufe jahrhundertelang fast ausschließlich von den Eltern auf die Kinder übertragen. Das führte zur Tradition, dass kleine Handwerksbetriebe über viele Generationen hinweg betrieben wurden.
Heute sind sie fast völlig verschwunden, diese alten Familienbetriebe. Viele von ihnen sind deshalb nicht mehr da, weil es für ihre Geschäftstätigkeit einfach keinen Bedarf mehr gibt. Andere hätten überleben können, wenn es ihnen gelungen wäre, sich den neuen Bedürfnissen des Marktes anzupassen.
So führte die erste industrielle Revolution um 1800 dazu, dass die Produktion von Waren durch die Nutzung der Dampfkraft vervielfacht wurde. Plötzlich wurde eine massenhafte Fertigung von Gütern möglich. Der Mensch wurde in diese mechanischen Abläufe regelrecht „eingebaut“. Viele kleine Handwerker, wie zum Beispiel die Weber, wurden damals fast über Nacht obsolet. Die zweite industrielle Revolution begann um 1900 mit der Nutzbarmachung der Elektrizität. Jetzt begann die arbeitsteilige Massenproduktion. Der Mensch wurde zunehmend vom mechanischen Helfer zum Steuerungselement der Maschinen. Die dritte industrielle Revolution startete um das Jahr 1970 mit dem Einsatz des Computers in den Unternehmen. Ein Computer konnte damals bereits mehr Maschinen steuern als viele Menschen gemeinsam. Heute sind wir in der Lage, mittels eines Smartphones ganze Werkhallen und Logistikzentren am Laufen zu halten. Die um 1970 einsetzende Automatisierung verdrängte immer mehr Menschen aus dem unmittelbaren Produktionsprozess. Um das Jahr 2000 begann die vierte industrielle Revolution. Selbststeuernde Smart Factorys, die Verschmelzung von Mensch und Maschine und das Internet der Dinge zeichnen die Zukunft vor. Und nun kommt die fünfte industrielle Revolution daher: die Digitalisierung.
Buchstäblich alles, was keines mechanischen Zutuns bedarf, wird digitalisiert werden: beispielsweise das Bezahlen, die Erstellung von Nachrichten und deren Verbreitung und vieles mehr. Aber auch die Berufe, die das mechanische Zutun des Menschen erfordern, erfahren zunehmend den Wandel zur Digitalisierung. Kranführer müssen nicht mehr vor Ort auf der Baustelle sein. Köche müssen keine Braten mehr ansetzen oder Soßen rühren. Bäcker brauchen keinen Teig zu kneten oder Brot zu backen. Anwälte werden von der KI ersetzt. Welche Seite Ihres Lebensbuches haben Sie gerade aufgeschlagen? Und wie viele Seiten haben Sie schon mal vorgeblättert?
Dieses Vorblättern ist beileibe keine einfache Sache. Man muss buchstäblich alles auf den Prüfstand stellen. Sämtliche liebgewordenen Gewohnheiten, ausnahmslos alle bewährten Abläufe, restlos alle erfolgreichen Methoden und alle effektiven Prozesse. Dieser Wandel ist ein disruptiv. Wenn man die Theorie verlässt, kommt man auch heute schon in der Praxis zu klaren Ergebnissen. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Arbeitssicherheit. Die Grundlagen unseres heutigen Verständnisses von Arbeitssicherheit wurden bereits von Bismarck geschaffen. Unsere heutigen Berufsgenossenschaften sind Kinder dieser Zeit. Sie sind wichtig. Keine Frage. Aber sie arbeiten eben auch noch mit Methoden aus dem 19. Jahrhundert. Echte Digitalisierung hat im Bereich Arbeitssicherheit bislang noch nicht stattgefunden. Eine Folge ist, dass weit über 90 Prozent aller Unternehmen in Deutschland noch nie oder nur extrem selten von den Berufsgenossenschaften in Sachen Arbeitssicherheitsgesetz und Arbeitsschutzgesetz tatsächlich kontrolliert wurden.
Dabei ist es heute schon möglich, und es wird auch bereits praktiziert, dass Gefährdungsbeurteilungen digital erstellt und Mitarbeiter online geschult und zertifiziert werden. So könnten auch Berufsgenossenschaften digitale Betriebskontrollen durchführen und damit deutlich mehr dafür tun, dass Arbeitnehmer in Deutschland sichere Arbeitsplätze bekommen. All das ist bereits heute mit Smartphone, Tablet, Laptop und Computer möglich. All das wird auch bereits praktisch umgesetzt, zu einem Bruchteil der gewohnten Kosten. Es passiert nur nicht massenhaft. Noch nicht!
Wenn die Disruption die Berufsgenossenschaften erreicht, werden viele von ihnen obsolet. Das liegt in der Natur der Sache. Trotz dessen wird sich der Anteil kontrollierter Unternehmen erhöhen. Es wird mehr Arbeitssicherheit für mehr Beschäftigte geben. Es werden weniger Arbeits- und Wegeunfälle passieren, weil die Disruption nicht bei den Berufsgenossenschaften halt macht. Die gesamte Wirtschaft, unser kompletter Alltag, selbst unsere Art zu Denken wird umgekrempelt.
Und es wird uns begeistern. Es wird unser Leben angenehmer und schöner machen. Wir werden freier leben. Blättern Sie in Ihrem Buch des Lebens heute die nächsten Seiten auf. Tobias Metz, Vorstandsvorsitzender der AuA24 AG in Norderstedt.
Bildunterschrift:
Tobias P. Metz, Vorstandsvorsitzender der AuA24 AG in Norderstedt: Wenn die Disruption die Berufsgenossenschaften erreicht, werden viele von ihnen obsolet. Foto: AuA24 AG
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